Er kauerte am Hang, die Beine fest umschlungen, und wippte vor und zurück, während der Wind durch sein zottiges Haar peitschte. Langsam hob er den Blick von seinen dreckigen Schuhspitzen. Egal, wie oft er an diesen Ort zurückkehren würde, der Anblick würde ihm immer wieder aufs Neue den Atem rauben, wenn dies nicht schon die kühle Herbstluft getan hätte, die sich nun mit all ihrer Naturgewalt in seine Lungen presste. Er mochte es hier oben, weit über dem tosenden Meer, was verwunderlich war, war dieses Spektakel doch solch ein Gegensatz zu ihm selbst. Frustriert rupfte er einen vereisten Grashalm aus dem harten Boden zu seinen Füßen und verknotete ihn mit einem weiteren. Dieses Spiel setzte er fort bis eine Art Ring entstand. Er betrachtete sein kleines Werk bevor er einen Schritt näher an den Abgrund trat und den Ring fallen ließ. Er blickte den Hang hinab. „Eins, zwei, drei, vier, fünf.“ Trotz seiner runden Brille hatte er ihn aus den Augen verloren. Statt eines unbefriedigenden Gefühls, breitete sich Zufriedenheit in ihm aus, bewies dies doch einmal wieder die Macht der Natur und im Vergleich dazu seine eigene winzige Rolle in diesem Universum. Seine Zehen schmerzten, als er probeweise mit ihnen wackelte, bevor er den Abgrund hinter sich ließ und die Augen fest nach unten gerichtet zurück zum Haus schlürfte.
Die Dielen knarzten beim Betreten der Veranda gefährlich laut unter ihm und hätte er einen Gast dabei, er würde vermutlich Angst bekommen einzustürzen. Doch da war nur er, Finn, wie immer ohne Gast, der genau wusste, dass sie halten würden. Er drückte die Türklinke hinunter. Jedes Mal dachte er dann an dasselbe. Wie er und sein Vater durchnässt vom Schnee lachend hereingekommen waren und sich mit einem vielsagenden Grinsen angesehen hatten, als sie den Duft von Mutters berüchtigten Kanelbullar in sich aufsogen. Heute war er zwar auch durchnässt, das war aber auch schon wieder alles, was jenen vergangenen Tagen gleichkam. Er war alleine über die Schwelle getreten und nichts deutete auf Kanelbullar hin. Und doch war das winzige Haus mit all den Decken und Büchern seine ganz persönliche Zuflucht.
Umso schwerer fiel es ihm jeden Morgen, seinen sicheren Hafen hinter sich zu lassen, um Frau Olssons Unterricht zu besuchen. Inzwischen konnte er fast schon behaupten, sie etwas zu mögen, denn sie war besser als die anderen Lehrkräfte, die ihn nach einiger Zeit entweder ignorierten oder sich an seiner Verschwiegenheit störten. Frau Olsson verstand ihn wohl genauso wenig, aber sie akzeptierte ihn, ja manchmal schätzte sie ihn sogar. Doch heute standen keine schwarzen Lackschuhe mit weißen Söckchen vor dem Pult, sondern Sportschuhe. Er richtete den Kopf etwas auf. Statt eines langen Kleides, empfing ihn ein T-Shirt und obendrauf ein Gesicht ohne jegliche Falten, die bei Frau Olsson immer im Gesicht wilden Tango zu tanzen schienen. Ein freches Grinsen rundete den Schlamassel ab. In diesem Augenblick wusste er genau, was auf ihn zukommen würde, falls sich dieser junge Mann als Vertretung entpuppen sollte. Und das tat er. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Finn zu seinem Opfer wurde. „Du da!“, der junge Mann zeigte auf ihn, „sag uns die Antwort“. Dann ging alles ganz schnell. Man konnte meinen, er war inzwischen daran gewöhnt, doch dem war nicht so. Sein Herz wechselte von Trab zu Galopp, während der Schweiß seiner Hände ein Schwimmbad hätte füllen können. Die Röte schoss ihm ins Gesicht und seine Augen zuckten wild durch den Raum, auf einer Suche nach einem Fluchtweg, den es nicht gab. Blut rauschte in seinen Ohren, gekrönt von leisem Kichern rund um ihn herum. Vor ihm fuchtelte der junge Mann nun mit den Händen. „Wenn du die Lösung nicht weißt, sag es einfach.“ Natürlich wusste er die Antwort. Noch einmal öffnete er die Lippen, um ihm und der ganzen Klasse genau das zu beweisen, doch es kam nicht ein einziges Krächzen aus seinem staubtrockenen Mund, rein gar nichts. Es war frustrierend, wie einer dieser Träume, in denen man rennt, ohne sich vom Fleck zu bewegen, nur dass das hier kein Traum war, nein, es war Finns bittere Realität.
„Sie können lange warten, der sagt nie was“, bemerkte Malte. „Genau, der schweigt wie das Grab seiner Mutter“, fügte Hugo neben ihm mit schelmischem Grinsen hinzu. Was zuvor passiert war, dass er keinen Laut herausbrachte, das war für ihn Alltag. Die Erwähnung seiner Mutter, ihres Ablebens, diese Grenze hatte bisher noch keiner überschritten und ging mit ganz anderen Emotionen einher, derer er nicht Herr war. So wich ihm nun all die Röte aus dem Gesicht und seine schwimmbadnassen Hände begannen unkontrolliert zu zittern. Er fand es so unfassbar unfair, dass die Welt sich immer weiterdrehte. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er sich anhören müssen, dass das Leben wohl oder übel weitergehen würde, und er empfand tiefsten Hass gegenüber diesem Konzept. Seine Mutter hatte ihn immer ihren Marmeladenhelden genannt und gemeint, Marmelade würde wie er die meiste Zeit des Jahres still im Regal stehen, aber wenn es darauf ankam, wenn es Waffeln gab, oder alle Nachbarn zum Frühstück kamen, dann war die Marmelade der Held und versüßte die Welt, so wie er es für sie tat und irgendwann für alle Menschen, er müsse nur Geduld haben. Von wegen Geduld. Er war eine Niete und nichts schmerzte ihn so sehr wie die Vorstellung, dass seine Mutter nun auf ihn hinabblickte und zusehen musste, dass sie sich in ihm geirrt hatte. Mit einer Entschuldigung auf den Lippen, die seine Lippen nie verlassen würde, machte er sich wieder einmal unsichtbar, bis um ihn herum plötzlich Chaos ausbrach.
Die kleine schlanke Hedda begann nach Luft zu schnappen, wie ein Ertrinkender, dessen Lungen sich mit Wasser füllen. Sie wurde blass, ja ihre Blässe machte sogar Finn Konkurrenz. „Hedda kollabiert! Was sollen wir tun? Hedda, Hedda hörst du mich?“ Das Klassenzimmer war in Aufruhr. Es erschallten aufgeregte Stimmen, die brüllten, kreischten, flehten. „Hedda!“ Immer wieder wurde ihr Name gebrüllt, was Finn schließlich aus seiner Trance riss. Alle Geräusche, die vielen Geräusche, um die er jeden Einzelnen von ihnen jeden Tag beneidete, wummerten nun nur noch im Hintergrund, während er Heddas Gesicht in beide Hände nahm und sie zwang, ihn anzusehen. Er hörte die Worte seiner Mutter, hörte ihre Stimme ganz deutlich. Hedda sah jetzt nur noch ihn an, und er atmete tief ein „eins, zwei, drei“ zählte er, animierte sie, mitzumachen, und wieder aus „vier, fünf, sechs“. Er hielt ihren Kopf ganz sanft in seinen Händen, als wäre er eine Kristallkugel, während ihre Schnappatmung langsam zur Ruhe kam. Finn lies ihre Hand nicht los, war ihr Fels in der stürmischen Brandung des Klassenzimmers bis die Sanitäter eintrafen. „Hätte jeder ein bisschen was von deiner Ruhe, wäre die Welt ein besserer Ort“, scherzte einer von ihnen mit einem Augenzwinkern. Und es war in diesem Moment, dieser Sekunde, als Finn realisierte, dass er sich nicht länger zu verstecken brauchte, dass das, was er über Jahre zu hassen gelernt hatte, die verdammte Stummheit, seine Marmelade war, sein einzigartiger Beitrag zu einer Welt, die Ruhe manchmal bitter nötig hatte.