Als ich das letzte Mal die Nachrichten sah, bekam ich plötzlich das Gefühl, weder lachen noch weinen zu dürfen.
Andere Menschen litten, wie konnte ich da über alberne Witze lachen? Andere Menschen hatten noch nicht einmal ausreichend Trinkwasser, um zu weinen, wie konnte ich da meine Tränen für Wutausbrüche und Liebeskummer verschwenden?
Als ich das letzte Mal die Nachrichten sah, bekam ich plötzlich das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein. Weil ich dasaß, gesund auf meinem gemütlichen Sofa, den Fernseher anstarrend, das flimmernde Licht, das die Schrecklichkeiten zeigte, die in der Welt geschehen. Ich saß nur da, in meiner Wohnung, in Sicherheit, und sah zu, wie anderer Leute Häuser brannten.
Es war das letzte Mal, dass ich die Nachrichten sah, und es ist zwei Wochen her.
Hier gibt es keine Fernseher, nur Trümmer und Tote. Tabea meint immer, sie seien nur bewusstlos und noch zu retten, aber meistens sind sie tot. Sie erzählt den Leuten auch, dass ihre Häuser wieder stehen werden, aber aus den Trümmern könnte man noch nicht einmal einen Haufen türmen: Die Hälfte ist Asche.
Tabea meint immer, ich solle nicht so pessimistisch sein, die Menschen bräuchten Hoffnung. Aber es ist nur die Wahrheit, und wenn die Menschen Hoffnung brauchen, dann keine falsche.
Unsere Truppe baut das Krankenzelt im ehemaligen Stadtzentrum von Santo Lucio auf. Der Brunnen steht noch, auch wenn er komplett verrußt ist. Eine ziemlich nackte Venus, deren mamorweißer Körper nun kohleschwarz ist - und trotzdem liegt das verführerische Lächeln auf ihren Lippen, als wäre nichts passiert.
Die Ärzte holen ihre Köfferchen heraus und ordnen alles auf unseren Klapptischen an, die Therapeuten helfen beim Ausladen von Lebensmitteln aus dem Lieferwagen. Wir Helfer - die ohne Doktortitel - ziehen mit unseren Tragen los, immer in Dreierteams mit einem Spürhund.
"Woran denkst du gerade?", flüstert Jonah, einer der älteren Helfer. Er war mit A bit of peace schon in Afghanistan, Syrien, Tansania und in Indonesien, davor hat er in Brasilien Bäume gepflanzt und Demos für die LGBTQIA+ Community organisiert. Er ist ein guter Mensch. Er war nie der, der nur vorm Fernseher saß, und anderen beim Leiden zusah. Es musste nicht erst seine Tante bei einem Vesuvausbruch in Ottaviano sterben, damit er den Fernseher abschaltete und etwas tat.
"Ich möchte keine toten Kleinkinder finden.", flüstere ich zurück. Gestern hat einer der Hunde einer schwangeren Frau aus den Trümmern geholfen, und ich werde nie vergessen, wie sie geschrien hat, als die Ärzte ihr auf gebrochenem Italienisch zu verstehen gaben, dass das Kind in ihr erschlagen worden ist. Je jünger die Menschen sind, die wir in den Häusern finden, desto größer ist dieses Gefühl, zu ersticken. Wenn ich eine neue Leiche finde, mit zertrümmerten Knochen oder verbrannten Gliedmaßen... Mittlerweile wird mir nicht mehr schlecht, aber es fühlt sich jedes Mal an, als lägen mir all die Trümmerteile auf der Brust - als wäre ich selbst hier verschüttet...
Das Ding ist, dass diese Toten nur noch Zahlen in den Nachrichten sind, die ich jetzt verpasse. Gesichtslos. Namenlos.
Tabea macht den Mund auf, wahrscheinlich, um mir erneut zu versichern, dass ich keine Leichen, nur Bewusstlose, finden werde, aber Jonah kommt ihr zuvor.
"Ist dein erstes Mal oder?"
Ich nicke, fast beschämt, dass ich mich mit siebenundzwanzig Jahren zum ersten Mal ehrenamtlich engagiere. Aber das muss ich nicht sein oder? Besser spät als nie, oder?
"Ich weiß genau, wie das ist. Am Anfang kam mir sogar einmal der Gedanke, dass ich es hätte verhindern können", er schnaubt, fast klingt es wie ein Lachen: "Als hätte ich allein einen Bürgerkrieg verhindern können", er deutet in die Ferne, wo der Vesuv liegt, bis auf die schwarze, dicke Wolke, die noch von seinem Ausbruch geblieben ist, wieder ruhig und friedlich. Unschuldig.
"Als hätte ich dem da befehlen können, nicht auszubrechen. Dafür bin ich viel zu macht- und bedeutungslos."
"Das ist jetzt nicht gerade aufheiternd", bemerkt Tabea stirnrunzelnd. Bevor auch nur einer von uns etwas erwidern kann, fängt der Hund an, unruhig zu werden.
Er hat einen Namen, der Hund. Irgendwas wie Rusty oder Rocky. Ich finde er sieht aus wie ein Herbert, deswegen nenne ich ihn jetzt so. Herbert läuft schnurstracks zu einem Haufen aus verkohltem Holz und Ziegelsteinen. Schluckend folge ich ihm; Jetzt geht´s ans Graben.
Zuerst denke ich voll Schrecken, ich hätte einen Säugling gefunden, aber es ist nur ein Puppe, der eines ihrer Knopfaugen fehlt. Man hat ihr ein Lächeln ins Gesicht gestickt, das ihr, genau wie Venus, wohl nie vergehen wird. Aber ich könnte es mit Asche übermalen. Den lächelnden Faden herausziehen...Dann wird mir klar, worüber ich nachdenke, und ich frage mich warum. Warum sollte ich die Puppe traurig machen? So ein breites Grinsen habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen; Es tut gut. Ich stecke die Puppe ein, um sie später einem der Kinder in der Turnhalle - dem provisorischen Heim der nun Obdachlosen - zu geben, da sehe ich eine Hand unter den Steinbrocken hervorragen. Eine kleine, blassblaue Hand, die zu einem kleinen, mit bunten Armbändern geschmückten Arm gehört. Mein Atem stockt, und während ich wie angewurzelt dastehe, machen die anderen beiden sich gleich ans Freiräumen der Leiche.
Der Rest des Körpers ist nicht so leichenfarben, deshalb überwinde ich mich schließlich mitzuhelfen, sorgsam bedacht, ihn nicht zu berühren. Anders als Tabea; das Erste was sie macht, sobald das Kind bis zur Schulter freiliegt, ist, danach zu greifen.
"Es ist noch warm!", ruft sie aufgeregt und lässt ihre Hände zum Handgelenk hinuntergleiten, um den Puls zu fühlen. Ein enttäuschter Ausdruck huscht über ihr Gesicht, der mir verrät, dass sie nichts spürt. Ich wusste es.
"Sag jetzt nicht, es ist bestimmt nur ohnmächtig."
"Okay. Dann sage ich, es ist noch am Leben. Macht weiter!"
Jonah, Herbert und ich gehorchen. Vielleicht... vielleicht grabe ich hier wirklich jemanden aus, der noch zu retten ist.
Es ist ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, in einem verrußten Kleid und bunten Freundschaftsarmbändern. Vielleicht sind die Besitzer und Besitzerinnen der Gegenstücke schon tot. Bis auf den Ruß und die abgestorbene rechte Hand sieht sie selbst jedoch sehr lebendig aus. Durchblutet. Wir heben das Leichtgewicht auf die Trage und aus einem Impuls heraus klemme ich ihr die Puppe unter den gesunden Arm. Er zuckt und ich springe erschrocken zurück.
"Heilige Sch-" Es kann Einbildung gewesen sein, aber ich könnte schwören, dass das Mädchen ihre Hand um den Puppenkörper schließt. Es sieht aus, als würde sie lächeln.
"Ha! Sie lebt, sie lebt!", ruft Tabea und schließt Jonah und mich in die Arme. Das letzte Mal bin ich so an meinem Abiball herumgehüpft - und da war ich ziemlich betrunken.
"Siehst du, sie lebt. Es gibt Wunder auf der Welt!", sie beugt sich über das Mädchen: "Alles wird wieder gut."
Ich möchte Tabea sagen, dass das nicht stimmt, dass nie alles gut sein kann. Aber irgendwie glaube ich ihr in diesem Moment.