Im Frühling, in dem ich meinen fünfzehnten Geburtstag feierte, wurde mir bewusst, dass ich etwas grundlegend falsch machte.
Natürlich wusste ich schon länger, dass ich irgendwie anders war. Ich hatte schon immer lieber meine Nase in ein Buch gesteckt, als mit den anderen Mädchen darüber zu diskutieren, welches Boyband-Mitglied am heißesten war, oder sehnsüchtig Maximilian aus der 6a hinterher zu seufzen, wenn er auf seinem Skateboard vorbeirollte. Aber als ich unter den Anfeuerungsrufen von Nora, Thea und Bernie meine fünfzehn Kerzen ausblies, wurde mir klar, dass das kein Zufall war. Ich war jetzt fünfzehn, und so langsam musste ich anfangen, mich auch so zu benehmen.
»Und, was ist mit Jonas?«, fragte Nora, während wir uns über die Schokocremetorte hermachten.
Ich erstarrte.
»Hat sich irgendwie noch nichts ergeben«, murmelte ich und steckte mir schnell mehr Schokosahne in den Mund, um nicht noch mehr sagen zu müssen.
»Also ich finde, ihr würdet gut zusammenpassen«, sagte Bernie.
»Aber beeil dich«, fügte Nora bedeutungsschwer hinzu, »sonst bleibst du forever alone.«
Ich schluckte und stimmte verlegen in das Lachen ein. Hätte ich bloß nicht erzählt, dass ich in Jonas verliebt war. Denn ich war mir immer weniger sicher, ob das überhaupt stimmte. Jonas kam mit allen gut klar und war immer für ein lockeres Gespräch zu haben. Ich fand ihn nett, und ich dachte, dass das genügte, um mich verliebt zu nennen. Aber mein Herz schlug nicht schneller, wenn er in der Nähe war; ich dachte nicht von früh bis spät an ihn, und eigentlich hatte ich auch kein Bedürfnis, seine Hand zu halten oder ihn zu küssen. Und das konnte ich schlecht zugeben. Nicht vor Nora, die seit einem Jahr mit Janis aus der Parallelklasse zusammen war; nicht vor Bernie, die vor kurzem etwas mit einem Jungen aus ihrem Dorf angefangen hatte; nicht vor Thea, die sich immer wieder frustriert darüber beklagte, dass sie in dieser Sache kein Glück hatte.
»Wer will schon eine daten, die noch aussieht wie zwölf«, sagte sie oft. Die Jungs, in die sie sich verguckte, machten sich manchmal über sie lustig, und einmal hatte ich sie angebrüllt, damit sie die Klappe hielten.
Aber aus all dem wusste ich: Es war unmöglich, fünfzehn und nicht verliebt zu sein. Also musste ich dringend etwas ändern.
Einen Großteil der Sommerferien verbrachte ich im Badezimmer. Von meinem Taschengeld kaufte ich einen Stapel Mädchen-Zeitschriften – denn wenn ich mich verlieben und eine richtige Teenagerin sein wollte, musste ich erst einmal lernen, was eine richtige Teenagerin ausmacht. Ich begann, mir die Augenbrauen zu zupfen, rasierte mir die Beine, und gab mein Erspartes für Make-Up und Gesichtspeelings aus. Ich fühlte mich selbstbewusst und bereit für die Welt, bereit für die beste Zeit meines Lebens.
Und so selbstbewusst und bereit für die Welt saß ich dann auf dem Badewannenrand und blickte zum Fenster hinauf. Es hing hoch oben in der Wand und war so klein, dass auch bei strahlendem Sonnenschein nicht genügend Licht hineinfiel, um sich selbst deutlich im Spiegel zu sehen. Ein wenig absurd war es schon: Ich wollte in diesem Sommer endlich erwachsen und begehrt werden, aber stattdessen hockte ich hier im Dunkeln. Mein Fenster zur Welt war zu klein.
Vor den Ferien hatte ich Sarah aus der Theatergruppe, die eine Klasse über mir war, gefragt, wie man eigentlich dorthin kommt. Zu Beziehungen, zum Rumknutschen, zu Sex. Sie hatte nur die Schultern gezuckt und gesagt: »Das ergibt sich halt irgendwie.« Es klang fast wie Noras Antwort auf meine Frage, woran man eigentlich erkennt, dass man verliebt ist: »Das merkst du dann schon.«
Ich merkte aber nichts. Bei mir ergab sich auch nichts. Ich saß nur auf dem Badewannenrand und blickte durch das viel zu kleine Fenster auf das Bruchstück eines strahlend blauen Himmels hinaus.
Nora und Bernie waren in diesen Ferien zu sehr mit ihren Jungs beschäftigt, aber manchmal, wenn Thea nicht gerade mit ihrer Jugend forscht-Gruppe unterwegs war, gingen wir zu zweit ins Freibad. Ich schmiss mich in Schale, legte mich mit meinem Handtuch auf die sonnige Wiese und wartete darauf, dass mich ein Junge ansprach. Dass sich etwas ergab. Aber nichts passierte. Die meisten Jungs waren entweder in grölenden Gruppen oder mit ihren Freundinnen unterwegs, und ich verspürte nicht die geringste Lust, einen davon anzusprechen. Thea konnte sich an den entblößten Oberkörpern nicht sattsehen und blickte den Jungs, die elegante Kopfsprünge von den Startblöcken hinlegten, bewundernd hinterher. Ich wusste nicht, was daran so toll sein sollte, und wandte mich bald wieder meinem Buch zu. Dieser Sommer war eine einzige Enttäuschung.
Im Herbst gab ich zum ersten Mal "bin ich lesbisch" in die Suchmaschine ein. Denn das war meine Schlussfolgerung aus diesem enttäuschenden Sommer: Wenn ich Jungs uninteressant fand, musste ich lesbisch sein.
Ich las Berichte über frühe Schwärmereien für Schauspielerinnen und Coming-Outs, und zähneknirschend fand ich mich damit ab: Ich war jetzt lesbisch. Die Erkenntnis hielt ich geheim, und sie lag mir schwer im Magen. Denn ich wusste, dass es noch immer nicht normal war, lesbisch zu sein. Vor allem aber, weil mir ein wichtiger Fakt auffiel: Zum Lesbischsein gehörte es, Mädchen zu lieben.
Es war auch der Herbst, in dem wir eine neue Mitschülerin bekamen. Sie war hübsch und nett, und ich fragte mich, ob es mir gelingen könnte, mich in sie zu verlieben. Einmal lud ich sie zum Eisessen ein und wartete auf den Funken, aber nichts passierte. Wir freundeten uns an, und ich musste mir eingestehen, dass mir das genügte. Ich war frustriert. An den enttäuschenden Sommer hatte sich also ein enttäuschender Herbst angeschlossen.
Im Winter las ich im Internet zum ersten Mal das Wort aromantisch. Von asexuell hatte ich vorher schon gehört, und ich verband es mit Paaren, die einfach keinen Sex hatten. Dieses Wort hatte nie etwas mit mir zu tun gehabt. Doch das änderte sich, als ich das Wort aromantisch lernte. Es bezeichnete Menschen, die keine romantische Anziehung empfinden. Das machte mich neugierig; ich tauchte tiefer hinein und fand Geschichten wie meine. Von Menschen, die sich nicht verliebten und sich deshalb in einer Welt voller Paare manchmal wie Außerirdische fühlten; Menschen, die kalt und herzlos und krank genannt wurden; Menschen, die sich jahrelang durch Beziehungen gequält hatten, weil sie dachten, so sei das Leben eben.
Irgendwann verstand ich, dass diese Menschen so waren wie ich; irgendwann verstand ich, dass es Wörter für das gibt, was ich bin.
Ich bin aromantisch und asexuell.
Das sage ich natürlich nicht allen. Ein paar Monate später erwähnte Nora, sie glaube, bisexuell zu sein. »Das ist jetzt witzig«, erwiderte ich, »denn ich glaube, ich bin das genaue Gegenteil.« Nora lachte, und ich lachte mit.
Am Ende genügte es mir, Worte gefunden zu haben, die beschreiben, was ich bin. Die mir sagen, dass es okay ist, so zu sein. Und dank derer ich weiß, dass es dort draußen viele andere Menschen gibt, die genauso fühlen und nicht-fühlen wie ich.