Der weite, leere Schulhof lag vor mir. Der Schulhof mit dem grün-blauen Fußballfeld, welches ich vormittags niemals zu betreten wagte, aus Angst, jemand könne mich abschießen.
Der Schulhof mit den metallenen, rutschigen Klimmzugstangen, wo die coolen Kinder den halben Tag verbrachten und ich schon vom bloßen Hängen mit langen Armen aus der Puste kam.
Der Schulhof mit den großen, grauen Mülleimern, in die weniger Müll geworfen wurde als auf mich.
An sich war an dem Schulhof nichts Bösartiges. Es war ein ganz normaler Schulhof, dessen einziges Ziel es war, den Kindern in den wenigen Pausen, die sie hatten, Vergnügen zu bereiten. Das einzig Böse an dem Schulhof waren die Kinder und Jugendlichen, die den Schulhof anschrien, auf ihm umher trampelten und ihn herumkommandierten, bis er schließlich nachgab und sie bekamen, was sie wollten. Scham, Schutzlosigkeit und Angst.
All das, was sie selber fürchteten. All das, was sie in ihren schlimmsten Albträumen verfolgte. All das, was ich jeden, beschissenen Tag erlebte.
Deswegen saß ich hier, auf der kalten Steinmauer, in einer tristen Ecke, in die ich mich oft verzog, um den meisten Menschen zu entkommen. Deswegen war ich hier.
Dumpfe Stimmen dröhnten aus dem Fenster links über mir. Wäre es in der Schulzeit gewesen, hätte man nicht einmal ein leises Geräusch vernommen. Jetzt war es aber still, sodass ich selbst das Gezwitscher der wenigen Vögel, die in den Bäumen dieser Stadt lebten, hören konnte, sogar das Rascheln der Blätter, wenn ein leiser Windstoß sie von einer Seite zur anderen schob.
Ich ließ meinen Blick über die kleinen Bäumchen schweifen, die auf diesem Schulhof standen und nicht wussten wohin mit sich, genauso wie ich nicht wusste, wohin mit mir.
Es war das letzte Mal, dass ich diese hilflosen Bäumchen sah, die die Einzigen gewesen waren, die meine Hilflosigkeit teilten, das wusste ich. Ich würde nie wieder an diesen Ort zurückkehren.
Die Stimmen hörten auf zu tun, wofür sie da waren, sie hörten auf zu sprechen, ihre Schallwellen zu verbreiten und es wurde noch ruhiger als zuvor.
Eine etwas ältere Frau trat auf den Hof, die schon gräulichen, aber noch langen Haare als lockeren Pferdeschwanz über der Schulter hängen. Meine Klassenlehrerin. Sie lächelte mir zu, so wie sie es schon oft getan hatte, doch heute war es weniger mitleidig als sonst. Auch dieses Mal wusste ich, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich ihr Lächeln sah.
Ich würde diese Frau verlassen, ich würde diesen Hof verlassen, ich würde diese Schule verlassen – ich würde mein altes Leben verlassen. Mit dem Gehen von der Schule würde mein Leben sich ändern, es würde besser werden, ich würde mutiger werden, ich würde besser werden. Das alles sah ich in ihrem netten Lächeln, welches an manchen, ach was, an den meisten Schultagen, der alleinige Trost gewesen war, der mir sagte, dass das Grauen bald vorbei sein würde.
Vier Monate und 21 Tage später sitze ich auf dem neuen Schulhof. Er sieht nicht wirklich anders aus, er hat ein ähnliches Fußballfeld, aber ein orange-rotes, die gleichen Klimmzugstangen und andere, größere, schwarze Mülleimer. Und obwohl der Pausenhof meinem alten ähnelt, hat sich etwas verändert. Hätte es diese Mülleimer auf dem alten Hof gegeben, hätte ich bestimmt oft das Innere entdecken können. Doch hier ist das nicht so. Ich kann auf einer Bank sitzen, die von Menschen umgeben ist, ohne beleidigt zu werden. Ich kann an den Stangen hängen, ohne dass ich schief angeguckt werde, weil ich keinen einzigen Klimmzug schaffe. Ich kann über das Fußballfeld gehen, sogar ohne meine schwachen Hände schützend über meinen Kopf zu halten.
Letzte Woche Montag habe ich Fußball gespielt. Ich. Das ist verrückt, ich wage es noch immer kaum zu glauben. Es hat sich so vieles verändert.
Aber was ist es eigentlich, was sich verändert hat? Bin ich es? In einer gewissen Hinsicht schon. Ich meine, ich habe Fußball gespielt, ich traue mich übers Fußballfeld, mir sind Sachen egal, die mir früher wichtig waren und mir sind Sachen wichtig, die mir früher egal waren.
Doch das, was sich am stärksten geändert hat, sind die Menschen um mich herum. Ich bin ja nicht plötzlich komplett anders geworden und gehe deshalb auch über mögliche Schussruten des Balls herüber. Ich mache es, denn ich weiß, die Menschen werden mich nicht abschießen, ich weiß sie werden aufpassen, sie werden ihr Spiel für mich stoppen. Für mich.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als mich ein Straßenköter-blondes Mädchen mit ungewöhnlich vielen Sommersprossen, die im ganzen Gesicht verteilt sind, und haselnussbraunen Augen antippt und mich aus meinen Gedanken reist. Sie schaut mich fragend an und zieht ihre schmalen Augenbrauen in unterschiedliche Richtungen: „Willst du jetzt was von mir essen oder nicht?“ Ich bin ein wenig perplex, sie scheint mich das gerade schon einmal gefragt zu haben. „Entscheide schnell, sonst ist sie weg!“ Sie schaut mich grinsend an und will gerade das letzte Stück der Brezel in ihren fröhlichen Mund schieben, aber ich kann es ihr gerade noch wegschnappen, bevor sie hinein beißt.
„Ja, ich will“, sage ich und sofort lachen wir beide lauthals los, weil es sich angehört hat, wie die Antwort auf einen Heiratsantrag.
Schon kommen noch zwei andere dazu, ein Mädchen mit blauen Strähnchen im braunen Haar und ein Junge mit großer Brille, der fast zwanzig Zentimeter kleiner ist als ich.
„Hey, ich will auch noch was!“ Er bricht sich wiederum ein kleineres Stück von meiner Brezel ab und ich teile mein schon winziges Teil noch einmal in zwei Hälften, um der blau-Strähnigen auch eins in die Hand zu drücken, bevor sie mich überhaupt fragen kann.
Ich stecke mir das übriggebliebene Fitzelchen in den Mund und probiere den etwas salzigen Geschmack so lange zu behalten wie nur möglich.
Die anderen schauen mich dabei an. „Hab ich was im Gesicht oder warum guckt ihr so blöd?“, frage ich spaßig. „Morgen bringst du mehr vom Bäcker mit, okay?“ „Na gut, aber dann müsst ihr das auch machen.“ „Klar.“
Wir schließen unsere Abmachung mit einem Blick auf die Uhr ab, jeder bringt mal was für die anderen mit und morgen bin ich dran. Wir gehen zurück ins Schulgebäude, auf zur letzten Stunde. Ich verfalle wieder in meine vorherigen Gedanken.
Leute möchten mit mir ihre Sachen teilen, mit mir! Leute wollen mit mir befreundet sein, mit mir! Leute finden mich cool, mich! Und nicht nur irgendwelche Leute. Freundliche Leute, Lustige Leute, Leute, für die ich das gleiche empfinde.
Ich fühle mich wohl.