Mein Herz rast. Die letzten Stunden über hat es wahlweise auch einige Augenblicke ausgesetzt, vielleicht will es die versäumten Schläge nachholen.
Das Rauschen in meinen Ohren ist so laut, dass ich meinen Direktor beinahe nicht höre: „-abgeben!“
Während ich mit wackligen Beinen nach vorne gehe, um wieder mal als Letzte abzugeben, ergreift mich ein unbändiger Selbsthass. Hätte ich nur ein bisschen mehr gelernt, vielleicht wäre ich fertig geworden. Hätte ich gestern kein Abendbrot gegessen und stattdessen gelernt, wie die Tage davor, vielleicht hätte ich noch ein ganzes Kapitel geschafft.
Auf meinem Weg nach draußen ignoriere ich alle, alle Sprüche darüber, wie meine Eltern mir wohl mein Abitur kaufen werden.
Es hat bestimmt nicht für die 15 Punkte gereicht…
Es ist witzig, wie unterschiedlich man Zeit wahrnehmen kann. Die Klausur ist erst ein paar Tage her. Ein paar Stunden, in denen die Welt sich viel zu schnell gedreht hatte.
Jetzt steht sie still. Die Welt, die Zeit, mein Herz. Zumindest kommt es mir so vor. Es ist schon den ganzen Tag so still. Dabei ist es gleichzeitig viel zu laut. Aber ich höre es nicht. Erst Minuten nachdem jemand mit mir spricht, realisiere ich, was die Person gesagt hat. Und auch, was ich darauf geantwortet habe. Als hätte dicker Sirup mein Hirn verklebt. Als hätte der Arzt, der mir heute mitgeteilt hatte, dass ich vielleicht nur noch ein paar Monate zu leben habe, mir die Schädeldecke aufgeschraubt und Sirup reingegossen.
Ich spüre die Trauer um mich herum, als bestünde sie aus Decken aus Nebel. Doch ich darf sie nicht an mich heranlassen. Sonst werden sie sich wohl um mich schlingen, um mich zu erwürgen. Oder schlimmer, sie würden den Sirup aufsaugen und ich müsste realisieren, was eigentlich los ist.
Es vergehen Stunden, Tage. Aber ich lasse den Sirup da. Es folgen weitere Untersuchungen. Aber ohne mich. Denn eigentlich bin ich gar nicht da. Vielleicht hat der Sirup ja die Kontrolle übernommen.
Es ist, als habe mir jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Mein ganzes Leben lang dachte ich, der Grund auf dem ich stehe sei unerschütterlich. Nun ist er fort.
Ich spüre, wie die Zeit durch meine Finger rinnt, versuche sie zu greifen, doch sie bleibt unberührt. Überlegend, wie ich die mir verbleibende nutzen kann, vergeht sie.
Rückblickend betrachtet hatte ich mich in den letzten Jahren wie eine Spielsüchtige in einem Kasino verhalten, mit meiner Lebenszeit als Währung. Es hatte nicht unbedingt Spaß gemacht, Zeit und Energie in die Automaten zu stecken, aber ich hatte den Gewinn vor Augen.
Obwohl es offensichtlich ist, dass man jeden Augenblick alles verlieren kann, scheinen die meisten das erst zu realisieren, wenn sie dabei sind es zu verlieren. So auch ich. In dem Augenblick, indem die letzte Walze der Slot-Maschine zum Stehen kommt und man feststellt, dass man nichts mehr hat, womit man seinen Verlust zurückgewinnen könnte, bricht alles zusammen. Es ist der Moment, in dem die Hoffnung auf den Gewinn verblasst und dahinter der Verlust zum Vorschein kommt.
Ich war noch nie in einem Kasino. Und trotzdem fühle ich mich, als hätte ich meine letzten Jahre verspielt.
Nicht, dass ich denke, man sollte nicht lernen, nur Partys schmeißen und sich die Birne wegsaufen. Fleiß ist gut und wichtig. Aber zu viel kann mindestens genauso schlimm enden wie zu wenig.
Was würde mir schon ein gutes Abitur bringen, wenn ich nicht genug Zeit habe, überhaupt einen Beruf zu bekommen?
Immer hatte ich mir vorgenommen: „Nach dieser Klausur gehst du entspannter an die Sache und lebst ein bisschen mehr!“, „Nach diesem Schuljahr…“, „Nach dem Abitur…“
Ich weiß auch, wie es weitergegangen wäre. „Nach diesem Semester kann ich ein bisschen Pause machen“, „Nach dem Studium nehme ich mir etwas Zeit für mich“, „Nach diesem Praktikum…“, „Nachdem ich einen Job gefunden habe…“
Aber für mich wird es nicht mehr weitergehen. Ich habe nicht mehr die Möglichkeit es zu verschieben; ich bin am Ende angekommen. Wer weiß, vielleicht hätte ich ohne die Diagnose dieselbe Realisation als Rentnerin gehabt. Vielleicht hätte ich dann die Zeit und das Geld, aber nicht die Kraft gehabt, mein Leben endlich zu genießen.
Ich komme mir selbst lächerlich vor. Als könnte man nicht jeden Tag vor einen Bus laufen und sterben. In der Dusche ausrutschen und sich das Genick brechen. An einer Fischgräte ersticken. Eine tödliche Krankheit bekommen.
Es war immer so unwirklich erschienen. Sowas passiert doch nur in Filmen. Oder es passiert nur anderen. Es war mir nie real vorgekommen. Dass sowas Teil der Realität ist.
Ich frage mich, ob die Leute, sobald es keine Maskenpflicht mehr gibt, in Supermärkten ihren Mundschutz nicht mehr tragen, weil es auch für sie keine Realität ist. Weil sie nicht begreifen, dass es Menschen gibt, die wirklich an Corona sterben. Weil es in ihrer Realität nur ein kleines Unwohlsein ist, dass nach zwei Wochen „Gefängnis“ wieder vorbei ist.
Mir steigen Tränen in die Augen und ich rolle mich zusammen, weil die Welt auf einmal wie ein riesiges Ungeheuer wirkt, das alles und jeden verschlingen will.
Warum gibt es Krieg? Wie kann irgendjemand andere Leute dazu befehligen Menschen zu töten? Leid zu verursachen? Tauchen andere Menschen nicht in der Realität von Diktatoren auf?
Jetzt weine ich bitterlich. Es ist nicht so, als hätte ich nie über all diese Themen nachgedacht. Ich kann es nicht erklären, aber ich sehe sie anders als zuvor. Ich verstehe nicht, wieso ich bei all den Grausamkeiten, die jeden Tag in unfassbaren Maßen geschehen, so teilnahmslos sein konnte. Und doch ist es offensichtlich. All das Leid dieser Welt ist zu viel, um es zu ertragen.
Ich kann es niemandem verdenken, wenn er neutral brutale Nachrichten liest. Wenn man den Nachrichten jeden Tag folgt, kann man wohl kaum anders als abzustumpfen. Wenn man Mitgefühl mit all den Schicksalen hat, über die berichtet wird, zerbricht es einen. Ich ertrage kaum die schlechten Nachrichten, die es ohnehin schon gibt, ohne noch über einzelne Schicksale zu lesen. Krieg, Umweltverschmutzung, Katastrophen, Pandemien, Klimawandel, Verfolgung.
Wenn man sie zu sehr an sich ranlässt, begraben die Themen einen. Aber das heißt nicht, dass wir sie im Gegenzug begraben sollten. Nicht das Ende vergessen, nicht den Tod. So beobachten wir den Klimawandel, als wären wir am Steuer eines voll funktionstüchtigen Autos, das auf eine Klippe zurast. Statt der Bremse treten wir auf das Gaspedal, behaupten die Klippe sei noch meilenweit entfernt.
Mit der Nachricht des Arztes hat sich mein Leben unwiderruflich verändert. Eine Prägung, die ich nie verlieren werde. Selbst nicht dadurch, dass es eine Fehldiagnose war.
Nicht nur für das „Fehl“, auch für die „Diagnose“ empfinde ich auf eine bizarre Art grenzenlose Dankbarkeit. Auch wenn es grundlos zu Leid geführt hat, war es doch nicht umsonst.
Mein Leben ist das gleiche wie vor ein paar Wochen, aber ich bin nicht mehr dieselbe.
Ich werde nicht erst anfangen zu leben, wenn es zu spät ist. Nicht in ein paar Jahren, nicht in ein paar Monaten, nicht morgen. Heute. Jetzt.