2020 entstand Gefühl, das ich so noch nicht kannte, eines, das tiefer griff als die anderen, mich mehr begleitete: Ich hatte Angst. Aufgewachsen im behüteten Umfeld, genug Geld, gute Krankenversicherung, hatte ich nie Grund gehabt, mir Sorgen zu machen. Kriege waren örtlich weit weg, der eiserne Vorhang zeitlich, Notsituationen emotional. Doch nun, plötzlich, brach diese Krankheit das feine Schutznetz auf, das uns Westeuropäer:innen seit Geburt umwebt und sichert, drang ein in den Alltag, zertrümmerte die jahrzehntelang gezimmerten Vorstellungen der Unverwundbarkeit.
Plötzlich musste ich Angst um meine unzerstörbare Mutter haben, die an Asthma leidet. Plötzlich waren da Diskussionen in meiner Familie, die ich so noch nie gespürt hatte. Mein Vater, ein sanfter, ehrlicher Mann, wurde laut, wütend, weniger berechenbar. Anfangs machte er noch mit, blieb im ersten Lockdown zu Hause, widerwillig, aber folgsam. Doch immer mehr zogen sich die Falten über seine Stirn, immer ärgerlicher sah er in die Zeitung. Das war noch 2020, bevor die richtig großen Debatten losgingen, als sich alle noch auf die Impfung und Freiheit freuten. Damals wollte er vor Allem eines: Wieder raus, wieder Menschen, wieder leben.
Als diese Freiheit jedoch langsam greifbar wurde, als die ersten ihre Masken gegen einen Stich eintauschten, da wurde er noch wütender. Nein, eine Impfung kommt nicht in Frage, für keinen für uns. Papa, denk nach, bitte, lies doch nach, wie sehr das helfen wird. Doch seine Meinung trieb schon tiefe Wurzeln, die sich noch tiefer eingruben in seinen Geist. Die Monate vergingen, die Impftermine auch.
Wir anderen, wir, die noch im Realen lebten, zeigten Widerstand. Jeden Tag brachten wir Argumente vor, sanft, aber bestimmt. Wir diskutierten über das Thema, hinterlegt mit Fakten, die wir tagsüber gesammelt hatten, guten Stimmen, Illustrationen, Videos. Und wir versuchten, ihn aufzufangen, nicht weiter abrutschen zu lassen. Wir waren eins in unserem Ziel, ihn zu schützen.
Viele gaben auf zu dieser Zeit, Freundinnen erzählten über schweigende Zusammenkünfte, andere Themen, tägliches Theaterspielen, als wäre alles noch normal. Noch schlimmer war die andere Seite, die, bei denen der Bruch zu groß war, die Gräben zu tief. In den letzten zweieinhalb Jahren hatten die Notare einiges zu tun.
Bei uns war es anders, wir wollten ihn nicht aussperren, wir wollten keine Grenzen ziehen. Wir arbeiteten weiter, morgens, abends, Mama auch nachts. War ich daheim, erwartete ich ihn mit offenen Armen, war ich studieren, rief ich an. Langsam, ganz langsam, legten wir neue Leitungen für Gedankengänge, zeigten andere Kanäle für Schlussfolgerungen auf. Es war viel zu tun, Vorurteile auszuräumen, Misstrauen in Wissen zu verwandeln.
Wir wurden halbe Wissenschaftler, kannten uns plötzlich aus in der Welt von Dingen, die zu unsichtbar fürs Auge und zu kompliziert für ausgeschriebene Wörter waren. Wir lasen kleingedruckte Paper, hörten langatmige Podcasts, redeten mit klugen Köpfen. Auf jede Frage eine Antwort parat haben, die Fakten wissen, die Zahlen solider aufzählen können als er mit seinen unerklärlichen Quellen.
Und wir wussten, es war nicht vergebens. Täglich kamen wir weiter, spürten, dass er weicher wurde, empfänglicher. Und wir gruben tiefer, rein in die emotionale Ebene, deine Frau ist krank, schütze sie doch. Deine Enkel, sollte es welche geben, brauchen dich, brauchen dich gesund. Stück für Stück widerlegten wir, was unrichtig war und zeigten die Alternativen auf. Weiter graben, weiter reden, weiter gehen. Dabei immer geduldig bleiben, freundlich sein, versuchen zu verstehen, was keiner Logik folgt. Und dies nicht für Tage, sondern für Monate, Jahre.
Und gestern kam er nach Hause. Wäre sein Hemd nicht weiß gewesen hätte ich sie nicht bemerkt, die kleine farbige Wölbung auf seinem Oberarm. Er zeigte es nicht her, das Pflaster. Musste er auch nicht, das winzige Lächeln, das er nicht verstecken konnte oder wollte, es klärte schon alles.