Vergangene Nacht hatte ich wieder von ihnen geträumt. Als ich wach wurde, zitternd und mit kaltem Angstschweiß bedeckt, dauerte es lange, bis sich die Schatten aus meinem Zimmer verzogen. Eine Stunde, zwei, lag ich wach, zwischen den Laken meines Bettes, die sich seltsam klamm anfühlten; ein Überbleibsel der Bilder aus meinem Traum, die sich weigerten, aufzugeben und endgültig zu verschwinden.
Während vor meinem Fenster das düstere Tintenschwarz der Nacht mit dem milchigen Blau des frühen Morgens den Platz tauschte, tanzten vor meinen Augen all die Bilder, die ich so erfolgreich zu verdrängen geglaubt hatte.
Mit einem Male sah ich wieder ihre Gesichter vor mir, die mal von eisiger Verachtung und mal von beißendem Gelächter verzerrt wurden und die sich in meine Erinnerung eingebrannt hatten wie die züngelnden Flammen eines Lagerfeuers, die ihre Krallen in das immer brüchiger werdende Holz schlagen.
In meinen Ohren erklangen all die Sprüche, unangenehm, wie eine CD, die aufgrund zahlreicher, durch wiederholtes Abspielen entstandener Kratzer der Abnutzung, nur noch Gänsehaut bereitende, verzerrte Töne erzeugt. Sprüche, die es in ihrer Dummheit und Einfallslosigkeit eigentlich nicht wert waren, sich an sie zu erinnern: haltlose Anschuldigungen, Kommentare, die Jungs so gerne benutzten, um ein Mädchen kleinzuhalten. Und die doch an der Seele nagten, die immer wieder kleine Stiche hervorriefen, die es unmöglich machten, sie zu vergessen.
Und dann all die Situationen, Erinnerungsbruchstücke, die wie eine Gänsehaut über meinen Rücken krochen und ihren eiskalten Atem in meinen Nacken bliesen. All die schmerzhaften Augenblicke; im Klassenzimmer, auf dem Schulhof und, mit Abstand die furchtbarsten, die in der Sporthalle. Die Momente vor den demütigenden Ballspielen, die so schmerzhaft ewig andauerten und dieser Moment, wenn er, der schlimmste von allen, in der gegnerischen Mannschaft war und er mir, kurz bevor es losging, diesen Blick zuwarf. Kälter, als ich es seinen Eisaugen jemals zugetraut hätte und die mir auch jetzt noch, trotz all der Jahre, die in der Zwischenzeit vergangen waren, immer noch Angst bereiteten.
Ich richtete mich in meinem Bett auf und schlug die Decke zurück. Sie wärmte mich schon lange nicht mehr, und es war sinnlos, mich noch länger der vergeblichen Hoffnung nach schützender Wärme auszuliefern. Die letzten verbliebenen schwarzen Schatten, die mir noch vor wenigen Stunden solch furchtbare Angst bereitet hatten, hatten sich nun endgültig in kühles Morgenblau verwandelt.
Meine Augen durchsuchten das Zimmer, als wollte ich mir versichern, dass wirklich kein Schatten mehr übrig geblieben war. Ein Schatten, der sich lautlos, gerade dann, wenn ich mich dem gefährlichen Anschein von Sicherheit hingeben wollte, von hinten anschleichen und mich in seinen eisigen Klauen gefangen nehmen konnte. Mein Blick fiel auf meinen Schreibtisch, der leise in einer Zimmerecke thronte. Ein Zufluchtsort, der mir Trost bot, wenn es mein Bett nicht mehr konnte.
Ich stand auf. Meine nackten Füße fühlten sich auf dem kalten Fußboden hilflos und verloren an und während ich mein Zimmer durchschritt, hatte ich das Gefühl, die Kälte haftete sich an meine Fußsohlen, um mir so durch den ganzen Raum zu folgen.
Ich ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl sinken und knipste die kleine weiße Schreibtischlampe an. Ihr warmes Licht ergoss sich über das Durcheinander, welches sich des Möbelstücks bemächtigt hatte: Bücher und Zettel, Briefe und Kugelschreiber vermischten sich auf der ehemals weißen, von Tintenschwärze und Bleistiftgrau in emsige Arbeitsfarbe verwandelten Schreibtischplatte zu einem undurchdringlichen Chaos. Ein Chaos, dessen Struktur einzig mir ersichtlich war.
Mit einem leisen Klicken schob ich die Schreibtischschublade auf und zog mein schon leicht abgenutztes, unzählige Male beschriebenes Notizheft heraus. Beinahe schon zärtlich legte ich es auf der Oberfläche des Schreibtischs ab und strich vorsichtig über den rauen, rot verschnörkelten Einband.
In wie vielen Morgenstunden hatte es mir bereits Trost gespendet?
Ich schlug es auf und blätterte sachte durch die Seiten. Tausende verschlungene niedergeschriebene Wörter, mal feinfühlig und kaum lesbar, mal fahrig, mal mit solchem Druck, dass sich die Abdrücke meines Kugelschreibers auch noch auf den folgenden Seiten abzeichneten.
Wie viele Wörter waren es wohl, die sich aus meiner Seele ihren beschwerlichen Weg auf das Papier gebahnt hatten?
Ganz hinten waren noch einige Seiten frei. Nicht mehr lange und ich müsste mich nach einem neuen Buch umsehen. Ich griff nach einem Kugelschreiber, den gelben mit zartem Blumenmuster. Der Kugelschreiber für die Albträume, der in seiner Lieblichkeit das perfekte Gegenstück zu den düsteren Bildern der Nacht darstellte. Nur wenige Sekunden lang verharrte die Spitze des Schreibers über dem Papier, dann schrieb ich.
Heute Nacht habe ich wieder von ihnen geträumt
Ich wurde wach und war so wütend
Wochenlang hatte ich keinen Traum mehr
Und dann, zu einem Zeitpunkt, der mir gerade nicht passte (eigentlich passt es mir nie)
Erschienen sie mir plötzlich wieder in einem Traum
Gedankenflimmern in verwaschener Sprache
Auf Schneeschauer alter Fernsehgeräte
Wie gerne würde ich sie ausschalten
Und sie aus meinem Leben verdrängen, wie an dem Tag, an dem ich sie zum letzten Mal sah
Seltsam, wie wenig sich unser Unterbewusstsein doch austricksen lässt
Ich hielt inne.
Das Blau war heller geworden. Der Kugelschreiber in meiner Hand fühlte sich warm an. Langsam, ganz langsam, breitete sich die Wärme in meinem Körper aus.
Genauso sachte, wie ich es aufgeschlagen hatte, schloss ich mein Notizheft wieder. In meiner Schublade lagen noch weitere, vollgeschrieben bis auf die letzte Seite. Worte, Satzfetzen, ganze Gedichte. Geschrieben zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten. Zu jeder Jahreszeit. In jeder erdenklichen Stimmung. Doch eines hatten sie alle gemeinsam.
Waren die Worte aus meiner Seele über meinen Stift auf das Papier geflossen, fühlte ich mich besser. Schloss ich die Seiten meiner Bücher, verblieben die Worte dazwischen, wie alte Kleidung, die man zur Aufbewahrung in Kisten verstaute. Gedanken, die zwischen den Deckeln sicherer waren als in meinem Kopf.
Meine Worte, Satzfetzen, Gedichte, spendeten mir Trost und sorgten dafür, dass sich meine Seele wieder leichter fühlte.
Ich ließ das Notizheft wieder in der Schublade verschwinden. Dort war es, mitsamt meinen Träumen, gut aufgehoben.
In meinem Zimmer war es nun hell. Die ersten Sonnenstrahlen der Morgensonne bahnten sich einen Weg durch meine Jalousien und warfen zarte Lichtspiele auf den Fußboden.
Nicht mehr lange und es würde in meinem Zimmer warm werden; warm wie Frühlingssonne, die auf von Winterkälte befreiten Waldboden schien. Die Schatten waren verschwunden.