Was ist, wenn das letzte Sandkorn fällt und in dir ein Sturm zu wüten beginnt?
Du kommst gerade nachhause und fragst dich, was heute Abend auf deinem Teller landen soll. Puh, die Wäsche quillt auch schon wieder über und im Kühlschrank herrscht gähnende Leere. Also eine Pizza vom Imbiss gegenüber?
Da klingelt dein Telefon und du verdrehst entnervt deine Augen, denn das passt dir eigentlich gerade überhaupt nicht.
Ein „Hallo?“ wird das letzte Wort sein, was du in dieser Zeitrechnung herausbringst.
Drei Worte erklingen am anderen Ende der Leitung. Drei so kleine Aneinanderreihungen von Buchstaben, die deine Welt schlagartig aus ihren Fugen heben. Du bist dir sicher, du stehst mit beiden Beinen fest auf dem Boden und doch fühlt es sich so an, als verlörest du jegliche Haftung.
Während du den Hörer langsam sinken lässt, blickst du durch das Wohnzimmerfenster nach draußen. Die Sonne strahlt auf den Deich und die warme Sommerluft hatte unzählige Menschen angelockt, es sich auf ihm gemütlich zu machen.
Du stehst hinter dieser Scheibe, beobachtest und merkst, wie sich ein eiskalter Schauer von deinen Füßen bis zum Scheitel erstreckt. Es war, als stünde die Zeit hier drinnen für einen kurzen Augenblick still. Draußen tobte das pure Leben.
Es war absehbar. Als Familie blieb euch nicht mehr viel Zeit, das wusstest du.
„Genießen Sie die gemeinsamen Augenblicke, mehr können wir nicht mehr tun.“ waren die Worte der Ärzte. Hoffen, bangen, wüten. All das liegt hinter dir. Eigentlich war jede Emotion dabei nur Eine fehlte-Akzeptanz. Nein, das konntest und wolltest du nicht und jetzt?
Das Unweigerliche war eingetreten - das letzte Sandkorn gefallen und nun stehst du da. Katapultiert in diese neue Zeitrechnung. Ohne sie.
Wie oft hattest du dir diesen Moment ausgemalt, dir überlegt, wie du reagieren und die ersten Tage verbringen würdest und jetzt? Nichts.
Von einer Sekunde auf die andere, scheint es, als wich alles Leben und mit ihm jegliche Emotionen aus deinem Körper. Rationalität und Funktionalismus bahnen sich ihren Weg und lassen allem Anderen keinen Millimeter Platz.
„Wie geht es dir?“ Du weißt es nicht. Prozentrechnung, Grammatik und das Gesetz von Newton, all das hast du damals in der Schule gelernt, wie jedoch trauert man?
Das hat dir nie jemand erzählt, und nun bist du gefangen, kannst weder benennen, was du brauchst, noch was nicht.
Sind da denn überhaupt Gefühle? Manchmal bist du dir dessen nicht sicher. Im nächsten Moment jedoch, ist da so viel, dass du fürchtest, es könnte dich zerreißen.
„Ich müsste doch weinend im Bett liegen! Was ist denn falsch mit mir?!“ Hörst du dich innerlich schreien. „Wie macht man das denn?“
Heute sind acht Wochen vergangen. Das Organisatorische ist erledigt, die Beerdigung durchlebt und der Weg zur Arbeit gehört schon lange wieder zu deinem Alltag. In deiner Fantasie hattest du dir alles so klar ausgemalt. Die ersten Tage wärest du von der Bildfläche verschwunden, hättest deinen Emotionen freien Lauf gelassen, um dann anschließend wieder ganz „die Alte“ zu sein.
Es kam anders.
Ihr letztes Sandkorn fiel durch die Uhr und löste einen Sturm sondergleichen in dir aus. Dieser Sturm brachte nicht, wie erwartet, sehr viel Regen mit sich. Stattdessen eine stickige, gar erdrückende Luft. In dieser erstickenden Masse aus Wind und feinem Sand, wurde das Sehen sehr beschwerlich. Das laute Rauschen machte auch das Hören zu einer Meisterleistung und die Orientierung zu behalten, gar unmöglich.
Du klammertest dich an deine bisherigen Erfahrungen, diese halfen dir allerdings nicht wirklich weiter. An den meisten Tagen gingst du deinem Alltag ganz normal nach - der Mensch braucht Normalität hattest du dir gesagt.
Dein Umfeld war in der ersten Zeit sehr vorsichtig, doch seit der Beerdigung war dies auch vorbei. Sie meinten es nicht böse, wussten es nur nicht besser.
Es war still geworden. Die Postkarten hatten als Erstes aufgehört und auch die Nachrichten und Fragen verschwanden. Es hatte etwas beruhigendes - es täuschte vor, die Welt sei zur alten Realität zurückgekehrt. Das war sie auch - meistens.
Diese trügerische Normalität wurde jedoch immer wieder durchbrochen.
Es schien fast so, als bräuchte die dir mittlerweile so vertraute Leere eine Pause.
Als hätte sie die letzten Wochen genug aufgefangen und sich gefüllt.
Du merkst, wie randvoll du bist. Mit Allem.
Wo Wut, da Hoffnung.
Wo Liebe, da Schmerz.
Erinnerungen an die vielen gemeinsamen Momente schossen dir zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten durch den Kopf. Jeder Augenblick ein Sandkorn. Wie gerne würdest du sie festhalten. Wie gerne wolltest das schon, als sie noch da war?
Du bemühtest dich mit aller Kraft, jedes Gespräch, die Tonlage ihres Lachens, ihre Gestik und die schlagfertigen Antworten zu verinnerlichen - sie in deinen Erinnerungen einzubetonieren. Trockener Sand jedoch lässt sich nicht formen, er fließt.
An manchen Tagen wirkt es, als hätte sich der Sturm in dir gelegt, an anderen merkst du schon mit dem Klingeln deines Weckers, dass die Allwetterjacke heute nicht einmal das Gröbste abhalten wird. Oft sind es nur kurze Momente. Dabei ist es dem Sturm völlig gleich, ob er dir auf der Arbeit, beim Einkaufen oder mitten in der Nacht begegnet. Wann immer er auf dich zu rollt, trifft es dich mit voller Wucht.
Alles bereits sortiert Geglaubte und wieder Aufgebaute wird schonungslos eingerissen.
Dem Boden gleich gemacht.
Es droht dich zu ersticken und du rennst. Versuchst, das zu retten, was dir lieb und heilig ist, nur um in Verzweiflung zu spüren, dass du es nicht schaffst.
Doch selbst nach den unsäglichsten Ausbrüchen legt sich das Unwetter wieder und gibt dir die Möglichkeit, dich neu zu sortieren.
In diesen Momenten wird die Luft klarer und du kannst durchatmen. Du nutzt die Zeit, Kraft in deiner Routine zu tanken. Der ein oder andere Ziegelstein kommt wieder an seinen Platz und du beginnst damit, das entstandene Geröll zu beseitigen.
Du lernst diese Zeit mit Leben zu füllen, sie hat von nun an die Aufgabe, dich durch die Stürme zu tragen.
Das Lachen mit deinen Freunden, die heißen Wangen nach einem Tanz in der Sommernacht, die Chöre, welche deinem Lieblingssänger bei einem Konzert entgegen singen. Das Gefühl der Abendsonne auf deiner Haut oder der Ausblick nach einer Bergwanderung.
All diese Momente lassen dich das Leben spüren und sie bieten dir inmitten der Unwetter einen Unterschlupf.
Mit jeder genutzten Erholungsphase, jedem Erlebnis, welches das Leben in dir erweckt und befeuert, merkst du wie die Leere langsam aus deinen Knochen weicht.
Du verstehst, dass du keine andere Wahl hast, als dich vom Sturm tragen zu lassen.
Ohne Kontrolle, ohne Plan, denn du lernst darauf zu vertrauen, dass er sich auch wieder legt.
Langsam gewöhnst du dich an den lauten Wind in diesem - in deinem Sturm.
Du verstehst, dass er dich hier und da besuchen wird und auch wenn er das Alte unwiederbringlich mit sich gerissen hat, so lasst ihr gemeinsam Neues entstehen.