Meiner Generation hat es bisher an nichts gemangelt. Vor allem nicht an Krisen. Was mich angeht, habe ich darüber lange nicht nachgedacht, aber inzwischen ist mir klar: Die Entwicklung meiner persönlichen Krisen verläuft in etwa parallel zur Weltkrisenlage.
Als die Finanzkrise die Welt in Aufruhr versetzte, kämpfte ich um die Aufmerksamkeit meiner Grundschullehrerin, die mich allerdings ignorierte und mir obendrein auch noch den schlimmsten Chaoten der Klasse als Banknachbarn zuteilte.
Ein paar Jahre später dann koinzidierte der Beginn meiner Pubertät mit der sogenannten Flüchtlingskrise. Während also sehr viele Menschen auf einmal in Europa Schutz suchten, war ich heillos überfordert angesichts meiner Metamorphose und der Tatsache, dass mir nicht nur die richtigen Klamotten, sondern auch das nötige Selbstvertrauen fehlten.
Wer die letzten ein bis zwei Jahre nicht irgendwo über den Wolken verbracht hat, dürfte demnach keinesfalls überrascht sein, dass meine aktuelle Krise nicht nur die bislang schwerste, sondern auch die am schwersten greifbare ist. Schließlich bezweifelt niemand die Komplexität der Lage, in der die Menschheit in ihrer Gesamtheit gerade steckt.
Die vielen Krisen addieren sich nicht, sie potenzieren sich (die Sache mit dem exponentiellen Wachstum haben wir ja jetzt einigermaßen verstanden). Sie greifen ineinander und greifen unsere Gesundheit, unseren Planeten, unsere Volkswirtschaften und Demokratien und unseren sozialen Frieden an.
Ich selbst habe irgendwann während meiner ersten Prüfungsphase im Studium gemerkt, wie anstrengend alles geworden war. Mein Leben: Ein Stresstest, nur ohne Atomkraftwerke. Mein Körper rebellierte, was mich noch mehr zur Verzweiflung brachte. Ich konnte mir meinen Schmerz nicht erklären, und warf es mir vor.
Emotional bin ich immer noch prekär. Alles, was ich sonst locker weggesteckt habe, die ganzen kleinen Gemeinheiten, treffen mich tief und kräftig. Ich wünsche mir meine Unbeschwertheit zurück, vor allem in Momenten, die eigentlich viel positives Potential haben.
Aber trotzdem: Ich bin und bleibe ein Heileweltmädchen, und das sage ich Maja auch. Maja sitzt neben mir, am Steuer unseres Fluchtwagens, wofür ich ihr dankbar bin, weil ich selbst keinen Führerschein habe.
„Also, ganz objektiv besehen, meine ich. Wie lächerlich, meine Wehwehchen mit den schlimmen Folgen der Pandemie zu vergleichen. Und der Klimakrise. Den Kriegen. Ach, du weißt schon. Dagegen ist meine Welt heil.“
„Schon“, sagt Maja. Sie schaut auf die Straße.
„Naja, aber wenn jetzt jemand behauptet, die Guten gewännen immer gegen die Bösen, glaube ich das nicht mehr. Irgendwie sind die tieferen Schichten in meinem Inneren durcheinandergeraten“
„Du bist verunsichert“, stellt Maja mit nüchternem Ton fest. Ihr Gesicht wird von der tief stehenden Sonne angestrahlt, ihre Züge sind ganz ruhig, ohne verkrampft zu wirken.
„Ja, und noch schlimmer: Die Menschen um mich herum sind es auch. Vielleicht waren sie das auch schon immer, und es fällt mir erst jetzt auf, weil ich früher diejenige war, die für Stabilität und Optimismus gesorgt habe“
„Jetzt bräuchtest du jemanden, der ein bisschen Ordnung in dein Leben bringt“, vermutet Maja. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich eigentlich gerade ein Selbstgespräch führe und mir Maja nur einbilde, weil sie immer genau das ausspricht, was ich denke. Vielleicht auch deshalb, weil genau das meine bisherige Bewältigungsstrategie war.
Mein Hang zu inneren Dialogen hat sich durch die Krise verstärkt. Schon morgens, wenn ich mir ein Porridge zusammenrühre, spreche ich mit mir selbst, und am späten Abend schimpfe ich mich aus für die sinnlosen Tätigkeiten, mit denen ich mich ablenken will.
„Ich habe mir nie etwas anmerken lassen“, erkläre ich Maja, „obwohl ich manchmal gedacht habe, ich würde bald unübersehbar tiefe Falten bekommen“
Vor uns ist gerade der kleine Badesee aufgetaucht. Streng genommen ist die Seesaison schon vorbei, aber beim Anblick des schlammigen Ufers kribbelt es in meinem Bauch. Maja parkt das Auto, holt die Picknickdecke aus dem Kofferraum und hält mir die Tür auf.
„Weißt du, was mir hilft? Modische Anzüge zu tragen, mich fein zu machen angesichts der Unzumutbarkeiten des Lebens. Einen guten Song zu hören und am besten mitzusingen. Zu tanzen, natürlich. Und zu schwimmen, das ist so ähnlich, nur noch schwereloser.“
Wir sind am Ufer angekommen und lassen uns nebeneinander auf der von Entendreck übersäten Wiese nieder.
„Oder natürlich ein Gedicht zu schreiben, meine tägliche Medizin“
„Für mich haben Gedichte immer nur der Verklärung gedient“, gebe ich zu bedenken.
Maja schüttelt energisch den Kopf. „Vor allem bringen sie Schönheit, und das ist dann, entschuldige die billige Metapher, eine Boosterimpfung für dein Weltvertrauen.“
Eine Weile lang sitzen wir schweigend da, lassen die Poesie des Abendhimmels und des Entenquakens auf uns wirken. Ich denke darüber nach, wie subjektiv doch alles ist. Zumindest fühlt sich dieser Moment gerade nicht nach Krise an.
„Am meisten hilft mir eigentlich etwas anderes“, sagt Maja plötzlich. „Gedichte, Mode, Musik, alles schön und gut, aber was wirklich wichtig ist… Das ist, das alles nicht alleine durchzustehen. Weißt du, Menschen sind besser, als wir oft denken. Sie sind altruistisch, solidarisch. Natürlich kommen die wenigsten unbeschadet durch die Krisen. Aber wir können uns gegenseitig stützen. Warum sollten am Krisenherd alle ihr eigenes Süppchen kochen?“
„Du meinst, wir sollten, anstatt Krisenstäbe einzuberufen, gemeinsam Zauberstäbe basteln?“, frage ich, und kichere. „Um dann alle zusammen den Dementoren unserer Krisen den Kampf anzusagen?“
„Genau das meine ich“, erwidert Maja, und küsst mich auf die Stirn. „Das nächste Mal redest du gleich darüber, okay?“