Meine Gedanken rasen so sehr, dass es sich anfühlt, als würde die Unruhe durch die Blutbahnen meines gesamten Körpers hetzen und ihn von innen wachkitzeln. Gleichzeitig warte ich vergebens darauf, dass mein Herz sich zur Verteidigung wappnet, aber mein schutzloser, dummer, nichtsahnender, naiver und dir hoffnungslos ergebener Trümmerhaufen hatte keine Chance gegen deinen Überraschungsangriff. Der Schmerz ist stechend und so lähmend, dass ich trotz Adrenalin-Hoch nichts weiter tun kann, als dir auf unserem Wohnzimmerteppich zusammengekrümmt gegenüber zu sitzen und dich verständnislos anzustarren.
Ich versuche mich durch die salzigen Schleier in meinen Augen zwanghaft auf deine Lippen zu konzentrieren, die sich stumm bewegen. Natürlich bin ich nicht tatsächlich unter Wasser, aber die Welt hört sich plötzlich so gedämpft an, als wäre ich in einen tiefen See abgetaucht. Wenn ich meine Lider einige Sekunden lang schließen würde, könnte ich mir vorstellen, wie ich mich heute Abend wieder an dich schmiege und in deinen Armen einschlafe. Ich könnte die stille Dunkelheit mit Momentaufnahmen von unserem ersten Kuss füllen, dem ersten Ich-liebe-dich oder unserem Urlaub in Tirol.
Ich konnte die Aufrichtigkeit deiner Zuneigung und deinen liebevoll auf mir ruhenden Blick nie wirklich fassen. Wo schaust du hin? Was siehst du? Warum findest du mich schön? Was würde ich jetzt dafür geben, noch einmal dein schönes Schmunzeln zu sehen und die bedingungslose Liebe deines Lächelns in mich aufsaugen zu können? Was würde ich dafür geben, mich noch ein letztes Mal in dem grünen Gold deiner Augen zu verlieren – in der Gewissheit; ich bin dein und du bist mein. Mir würde auch ein Bild deines zahnpastaverschmierten Grinsens oder deines kichernden Bibberns beim Planschen in der kalten Ostsee genügen. Denn wenn du lachst, lacht jede Zelle meines Körpers mit. Und in meinem Kopfkino hören wir einfach niemals damit auf, zu lachen und bis tief in die Knochen hinein überwältigend glücklich zu sein. Aber ich weiß, dass das nicht real ist. Ich ahne, dass es kein solches nächstes Mal geben wird. Denn ich muss dir gar nicht zuhören, um entziffern zu können, was du sagst und zu wissen, dass du Recht hast; es funktioniert nicht mehr, wir sind nicht mehr glücklich. Ich nicht, und du noch weniger. 1112 Tage lang hat unsere Liebe gehalten und jetzt… Ja, was jetzt? Begraben wir unsere Gefühle lebendig? Entwirren unser verwobenes Leben und wachsen wieder auseinander?
Ich will dich nicht verlieren. Ich kann dich nicht verlieren. Was soll ich denn nur ohne dich tun? Was bleibt von der Erde übrig, wenn mit dir meine ganze Welt sich von mir verabschiedet? Wie soll ich mich vollständig geschweige denn glücklich fühlen, wenn ich weiß, dass ich irgendwann den Klang deiner Stimme vergessen werde? Wem soll ich von meinem Tag berichten, wem meine größten Ängste und Träume anvertrauen? Wen soll ich finden, der mich so sieht und versteht, wie du es tust? Wie soll ich noch einmal lieben können, wenn ich dir meinen ganzen Lebensvorrat Liebe geschenkt habe? Wie soll ich nach vorne blicken, wenn mich täglich Gedanken und Erinnerungen an dich zurück in die Vergangenheit jagen werden? Es stimmt; die letzten Monate waren schwierig, aber wir können doch an uns arbeiten und zu unseren guten alten Zeiten zurückfinden?!
Du siehst mich fragend – ja, fast flehend – an und dein Blick ist mir so fremd, dass ich dich für einen Augenblick lang nicht wiedererkenne. Ich öffne meinen trockenen Mund und schließe ihn wieder. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, was du hören willst. Dass wir Freunde bleiben werden? Dass wir es in fünf Jahren bei Bedarf noch einmal miteinander probieren können, wenn deine Lebenskrise überstanden und eine Beziehung mit mir keine Unbequemlichkeit mehr sein wird? Wuttränen sammeln sich in meinem Augenwinkel und fließen mir brennend über die Wangen. Wusstest du, dass du mein Herz brechen wirst, als wir Neujahr unsere gemeinsame Zukunft planten? Hast du deshalb gezögert, als ich uns Konzerttickets für kommenden März kaufen wollte?
Nein, hör auf, erspar mir die Ausreden. Sag mir nicht, dass du mich immer lieben wirst, dass ich perfekt und die Eine für dich bin. Wie kannst du mich lieben und bei der Vorstellung an ein Leben ohne mich nicht vor Einsamkeit zerbrechen? Wie kannst du diese Leere aushalten? Ich verkneife mir den Instinkt, den Fehler bei mir zu suchen und mich zu fragen, ob ich es hätte verhindern können. Denn ich weiß, dass du dich nicht meinetwegen trennst. Ich habe dir immer alles verziehen, obwohl mir klar war, dass ich mehr verdient habe. Du warst alles, was ich brauchte. Deswegen habe ich mich gekrümmt und verbogen, um dir zu gefallen und deinen unmöglichen Ansprüchen gerecht zu werden. Ich habe dir in deiner Wut und Trauer zur Seite gestanden, die Zusammenbrüche und verbalen Ausfälle hingenommen. Ich habe dir so viel verziehen, aber was ich dir wirklich nicht verzeihen kann, ist, dass du mich und uns einfach so willentlich gehen lässt. Dass du das überhaupt kannst. Dass du mich sogar darum bittest.
Ich habe dir jahrelang die Welt zu Füßen gelegt und du hast noch nicht einmal Danke gesagt. Vielleicht war der 1112. Tag schon einer zu viel. Vielleicht hätten wir bei 1111 uns schnell etwas wünschen und dann getrennte Wege nehmen sollen. Vielleicht war dieser kleine Weltuntergang auch schon viel länger überfällig: Ich spule auf der Leinwand meines Kopfkinos erneut unseren Liebesfilm ohne Happy End ab und schaue dieses Mal ganz genau hin. Ohne Schönheitsfilter. Ich sehe den Streit und das darauffolgende stundenlange Schweigen auf unserer Autofahrt in die Berge. Ich sehe ein Jahr später dein schönes Gesicht, das in unserer Küche zur hässlichen Fratze wird, als es mir Beleidigungen und Vorwürfe entgegenschreit. Ich sehe deine Eltern, denen ich nie gut genug war und deine Freunde, die mich genauso wenig leiden konnten. Ich sehe mich alleine in unserer Wohnung am Weihnachtsbaum sitzen, während du mit deiner Familie, die mich nicht eingeladen hatte, feierst. Ich sehe die kalt gewordenen Abendessen, die schlaflosen Nächte und die vielen, vielen Tränen. Wenn du mich liebst, warum tust du mir so weh? Und wenn ich mich liebe, warum lasse ich dich machen? Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und sage das einzige, was mir zu deiner Entscheidung plötzlich einfällt; okay.