Es war April. Das Leben kehrte in die Welt zurück, Blumen blühten, Kinder lachten. Ich war glücklich. Zumindest für diesen kurzen Moment, in dem ich innehielt und diese ganzen Eindrücke wahrnahm.
Ich wusste, dass du heute länger arbeiten würdest-Überstunden. Also beschloss ich, schon einmal unseren wöchentlichen Einkauf zu tätigen und später pünktlich zu kochen. An der Kasse des Supermarkts sah ich Tristan, meinen früheren besten Freund. Naja, eigentlich waren wir immer noch gute Freunde, doch du verbotest mir, mit anderen Männern Kontakt zu haben. Entsprechend groß also war meine Freude, als ich ihn hinter einem randvollen Einkaufswagen entdeckte. „Tristan“, rief ich und heimste mir dadurch fragende Blicke anderer Kunden ein, doch das war es mir wert. Nachdem ich bezahlt und alles in meinem Korb verstaut hatte, wartete ich, bis Tristan das gleiche getan hatte, um ihm danach überschwänglich um den Hals zu fallen. Auch er teilte meine Freude und fragte mich, ob wir noch einen kleinen Spaziergang in der Abendsonne unternehmen möchten. Ich schaute auf die Uhr. Noch zwei Stunden hatte ich Zeit, dann musste ich zuhause sein, die Einkäufe versorgt und gekocht haben. Leise stieß ich einen Seufzer aus. „Na gut, aber ich habe wirklich nicht lange Zeit“, willigte ich ein.
Tristan hakte mich unter und wir liefen in Richtung des kleinen Parks in der Elisenstraße. Wir redeten viel und lachten. Bei ihm fühlte ich mich immer so frei und unbeschwert. Ich hatte ihn vermisst. „Du siehst gut aus. Richtig glücklich“ komplimentierte er mich. „Danke“, ich lächelte. „Das bin ich auch“. Innerlich schluckte ich. „Hol mich hier raus, ich will nicht mehr heim“, schrie alles in mir, doch ich bekam kein Wort davon über meine Lippen. So liefen wir weiter durch den grün gewordenen Park, Tristan mit leichten Schritten und ich mit schwerem Herzen. Als ich später auf meine Armbanduhr blickte, fuhr mir ein Schreck durch die Glieder. „Ohje, so spät? Ich muss los!“ stieß ich erschrocken aus, verabschiedete mich von meinem besten Freund und hastete in Richtung der Häuserblocks in der Salinenstraße.
Angekommen. Schnell rein. Ich stolperte die Treppen nach oben und ließ mich kurz darauf erschöpft an der weißen Wand unseres engen Flurs auf den Boden sacken. „Eins, zwei,“, ich musste anfangen. „Drei, vier,“ murmelte ich und stand auf. Vorbildlich begann ich so schnell es ging, alles zu erledigen. Als ich gerade damit beginnen wollte, Pinienkerne zu rösten, hörte ich einen Schlüssel im Schloss. Ich erstarrte. „Eis“ dachte ich und begann zu frösteln. Dann hörte ich deine penetrante Stimme meinen Namen rufen. Ich atmete einmal tief durch und kam auf dich zu. Maske auf, funktionieren. Ich gab dir einen Begrüßungskuss und verwies auf die Küche. „Ist fast fertig“. „Wie?“ deine Augenbrauen bildeten eine gerade Linie und die Ader auf deiner Stirn begann anzuschwellen. „Ich habe aber jetzt Hunger! Jetzt sofort! Du hattest doch den ganzen beschissenen Tag Zeit.“ Ich senkte meinen Blick und entschuldigte mich. Einmal, zweimal, dreimal.
„Kannst du mich nur einmal lieben?“ dachte ich, während ich dem Reis beim Kochen zusah. „Nur einmal“. Hastig drapierte ich Lammmedaillons, Soße und die gerösteten Pinienkerne auf unseren Tellern, dann den Reis. Als ich gerade dabei war, die Teller abzustellen, meine Maske fester zu ziehen und mein bestes Lächeln aufzusetzen, gab es einen Knall. Du hinter mir. Ich hielt die Teller nun schief in meinen Händen und sah dem Inhalt zu, wie er leise zu Boden fiel. Die Teller ließ ich dennoch nicht los, ich umklammerte sie immer fester. Sie gaben mir Halt. Halt in einem Leben, das immer mehr zu wackeln begann. Ich brauchte einige Momente, um mich zu sammeln, um zu verstehen, was gerade passierte. Du hattest mich gestoßen. Schon wieder. Ich dachte an jenen Tag, an welchem du mich das erste Mal verletzt hattest- verbrannt mit deiner Kippe. Auf dem Boden hattest du mich um Verzeihung gebeten-immer und immer wieder. Ich hatte dir verziehen. Einmal, zweimal, dreimal. Du hattest dich nicht einmal bei mir entschuldigt. Ich schluchzte leise auf. Dann etwas lauter. „Du betrügst mich, ich weiß das.“, schriest du. „Warum sonst warst du heute nicht im Zeitplan?“ Ich schluckte, doch der Kloß in meinem Hals löste sich nicht auf. Ich hatte Angst. Angst vor dir. Vor dem Mann, den ich einst mein Zuhause nannte, vor dem Mann, für den ich so viel getan hatte. „Ich will heim“ dachte ich, während ich genau genommen zuhause war.
Ich dachte an eine Zeit zurück, in der noch alles in Ordnung war. An eine Zeit, in der ich Freunde haben durfte. An eine Zeit, in der ich Flügel hatte, frei war und beschwingt. An eine Zeit, in der ich dachte, ein Mann würde mein Glück vollkommen machen. Jetzt konnte ich über meine Naivität nur den Kopf schütteln und lachen, obwohl ich lieber geweint hätte. Ich dachte an meine Grundschulzeit zurück. „Fehler sind nicht schlimm. Aus Fehlern lernt man.“ säuselte Frau Drägers, meine Mathelehrerin uns immer ins Ohr. Es war okay und doch wusste ich, dass ich aus diesem einen Fehler kaum mehr herauskam. Du warst der Fehler. Mein größtes Problem.
Für einen kurzen Moment stand alles still. Dann prasselten Beleidigungen und Erniedrigungen auf mich ein. Als deine Worte nicht mehr genug waren, hobst du deine Hand. Dein Gesicht hatte animalische Züge und du schautest mich mit einer schrecklichen Grimasse an. Deine Fäuste trafen mich wie Hagelkörner. Überall. Immer fester. Ich stand still, regungslos, erstarrt. Als ich irgendwann nur noch den metallischen Geschmack von Blut im Mund hatte, ließt du von mir ab. Du befahlst mir ins Badezimmer zu gehen und mich zu säubern. Ich gehorchte dir. Als ich die Türe hinter mir ins Schloss fallen ließ, atmete ich das erste Mal wieder durch. Mit leisen Schritten bewegte ich mich zu dem runden Spiegel und sah hinein. Aber ich sah mich nicht. Erkannte diese Person, die mich aus dem Glas anstarrte, nicht. Wieso fühlte sich das wie Sterben an? Voller Angst und Adrenalin ging ich zu dem kleinen Fenster. Ich öffnete es, ohne lange darüber nachzudenken. Dann sprang ich. Unsere Wohnung war im ersten Stock und meine Füße berührten kurze Zeit später das kühle Gras des kleinen Vorgartens.
Dann rannte ich. Ich rannte und rannte. So schnell mich meine Füße tragen konnten. Ich wollte nur weg. Langsam begann ich zu realisieren. Wie hatte ich das all die Jahre aushalten können? In mir wohnte die Angst und doch war ich in dieser Nacht fest entschlossen, nie mehr zu dir zurückzukehren.
Momentan kämpfe ich mich wieder in mein Leben zurück. Das ist gar nicht so einfach. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin oder wer ich sein möchte. Aber ich weiß, dass ich mir selbst gehöre und mich nie wieder irgendwem unterordnen muss. All die Jahre war ich leise neben dir gestorben und erst jetzt fiel mir all das auf. Erst jetzt lerne ich zu realisieren und zu verarbeiten. Noch immer lebe ich in Angst vor dir. Ich weiß, dass du nur darauf wartest, dich an mir zu rächen. Aber ich weiß auch, dass ich stark bin. Ich kehre wieder zurück zu mir. Zurück nach Hause.
Langsam beginne ich meine Flügel zu kleben. Irgendwann werde ich wieder fliegen und frei sein.
Irgendwann.