Scherben bringen Glück

Wettbewerbsbeitrag von Julie Bäßler, 19 Jahre

Ich sitze am Meer und denke an unsere erste Begegnung zurück. Ich versuche mich zu erinnern, aber es fällt mir schwer. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ich schließe meine Augen und sehe dein Gesicht. Meerblaue Augen, die mich traurig durch die Flammen anschauen. Deine braunen Haare fallen auf deine Schultern. Du siehst mich an, lächelst müde und ich schmelze. Ich frage mich, wie kann man so schön sein?
Ich hänge an deinen roten Lippen, doch verstehe kein Wort von dem, was du mir erzählst. Ich kann meine Augen nicht von dir nehmen, obwohl ich mit jeder Sekunde, die ich dich ansehe, ein bisschen trauriger werde.
Du sitzt genau neben mir, doch zwischen uns liegen Welten. Ich möchte dich berühren, dich küssen, doch meine Lippen treffen auf eine unendliche Leere und ich falle. Falle in die Unendlichkeit.
Mein letztes Stück Hoffnung erlischt wie die Funken im sternenklaren Nachthimmel.

Der Schrei einer Möwe bringt mich zurück in die Gegenwart. Einmal mehr wird mir bewusst, dass ich für jemanden gefallen bin, der mich nicht auffängt. Jemanden, der mich nie aufgefangen hat. Hart schlage ich auf dem Boden auf. Ich bekomme keine Luft. Es fühlt sich an, als würde ich ersticken. Ich schreie, aber niemand hört mich. Wie kann dies das Ende sein, wenn es noch gar nicht richtig angefangen hat, frage ich mich.

Ich schaue auf den weiten Ozean und bin sprachlos. Sprachlos aufgrund der ungebändigten und grenzenlosen Schönheit, die mir zu Füßen liegt. Ich, meine Probleme und mein Leben erscheinen mir in diesem Augenblick unwichtig. Eine, auf eine gewisse Weise traurige, aber wunderschöne Melancholie zaubert mir ein Lächeln auf mein Gesicht. Dieser Moment ist perfekt. Deine Liebe ist wie eine Krankheit. Langsam fließendes Gift, welches sich seinen Weg durch jede Ader meines Körpers bahnt. Ich halte fest an einem Haufen von Scherben, doch auf einmal sehe ich klar. Ich weiß, was ich tun muss.

Ich steige auf mein Fahrrad und fahre los. Vorbei an grauen Häusern, vorbei an Erinnerungen und Momenten, die für immer uns gehören werden. Vorbei an unserem Platz. Ich halte an. Er ist übersät mit leeren Flaschen, die unachtsam auf den Boden geworfen wurden.
Ich beginne die Scherben aufzusammeln und werfe sie in den Mülleimer. Ich schaue auf meine Hände hinunter. Rotes Blut tropft auf den Boden, während meine Hände die Scherben umklammern. Unfähig loszulassen. Trauer schwappt wie eine Welle über mich und zwingt mich einmal mehr in die Knie. Eine Träne kullert über meine Wange und fällt in Zeitlupe auf den Boden. Für den Bruchteil einer Sekunde kommen Zweifel über mich. Ich halte inne und atme tief ein. Wohltuende, kühle Herbstluft strömt in meine Lungen.
Ich lasse die Scherben fallen und fahre weiter.

Ich halte vor deinem Haus. Es sieht alles aus wie immer. Rote Rosen ranken sich über das Eingangstor. Ich gehe durch die Pforte, klopfe an deine Tür und warte.
Du öffnest und ich schaue dich an. Schaue dir tief in deine meerblauen Augen, aus denen so viele Tränen geflossen sind. Ich weiß, dass dies ein Abschied ist und du weißt es auch.
Wir haben so viel gemeinsam erlebt. Sind so hoch geflogen und noch tiefer gefallen. Ein Stück von mir wird auf ewig dir gehören.
Doch jetzt schaue uns an, wie wir versuchen an etwas festzuhalten, das nichts als schmerzt. Du musst mich loslassen. Du musst mir erlauben, dich loszulassen. Du schaust auf meine blutigen Hände. Blut, verursacht durch die Fesseln unserer verdammten Verbundenheit.
Sanft wische ich dir deine Tränen von der durchsichtigen Haut, ehe ich mich umdrehe und für immer gehe.
Mit jedem Meter, den wir uns entfernen, fällt ein Stück Last von meinen Schultern
Meine Wunden beginnen zu heilen.
Zum ersten Mal seit langem spüre ich etwas wie Hoffnung. Hoffnung auf ein besseres Leben.
Hoffnung auf ein besseres Ich.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.