Ich starb als Mina elf Jahre alt war. Es war ein regnerischer Tag im Herbst, einer wie jeder andere, einer, an dem man merkt, dass der Sommer vergangen war. Allen war klar, dass es sich nur um eine Frage der Zeit gehandelt hatte. So sehr ich auch versuchte an den letzten Sonnerstrahlen festzuhalten, trug der Herbstwind mich fort. So leise wie der Sommer, verblasste auch ich.
Mina war noch so jung, als ich sie verließ, schon bald konnte sie sich nicht mehr an meine Augenfarbe erinnern, an meine Stimme oder wie ich mit ihr das Alphabet übte. Als der Winter schließlich hereinbrach, vergrub er die Erinnerung an mich immer weiter unter seiner weißen Schneedecke und überführte mich in die Vergangenheit.
Aber macht euch keine Sorgen, ich gelangte mit Leichtigkeit in den Himmel. Ich hatte meine Zeit auf der Erde absolviert und Mina gut vorbereitet. Jetzt musste sie ohne mich in See stechen, allein, ohne Hafen, und doch mit so viel Mut und Stärke in den Segeln. Man konnte die Courage in ihren Augen sehen, nicht auf eine laute oder rücksichtslose Weise, aber fest entschlossen, sich jedes Mal wiederzufinden, wenn sie sich verloren hatte. Sie sondierte ihren Kurs mit Bedacht und Behutsamkeit, mit so viel Vertrauen in das Meer und seine warmen Strömungen, wie ich es ihr nie hätte beibringen können. Sie war das klügste Kind der Welt, da bin ich mir sicher.
Ich gab ihr alles, was ich zu geben hatte. Wir bauten Sandburgen auf dem Spielplatz und Luftschlösser in unserer Fantasie. Ich sah sie aufwachsen, in den Kindergarten kommen, erste Freunde finden, Träume entwerfen und ziehen lassen. Ich nahm sie in den Arm, wenn sie heiße Kindertränen weinte und freute mich mit ihr, wenn die Welt sich von ihrer Sonnenseite präsentierte.
Ich erinnere mich gerne an ihren siebten Geburtstag, es war eine schwierige Zeit, neue Freunde finden, eingeschult werden... Geburtstage sind wichtig. Der Härtetest für einen jeden Erstklässler; wer wird eingeladen, welchen Kuchen backt man (keine Nüsse, Laktose oder Gluten, nur um auf der sicheren Seite zu sein, wahrscheinlich auch noch vegan) und gibt es eine Schatzsuche? Wir zogen alle Möglichkeiten in Betracht, damit uns keine Fehler unterliefen. Wochen vorher schnitten wir die hellblauen Einladungskarten aus, verzierten alles mit feinstem Glitzer und kontrollierten die Deko doppelt und dreifach. Mina war sehr aufgeregt, als es endlich so weit war. Ich versuchte meine Nervosität zu verstecken, mit mäßigem Erfolg.
Ich genoss es, sie so fröhlich zu sehen, so vertieft in die Gespräche ihrer Freundinnen und erfüllt von dem Glück um sie herum. Genau dann hätte ich es wissen können, aber es dauerte noch einige unschuldige Monate bis ich realisierte, dass ich sie viel mehr brauchte, als sie mich. Und versteht mich nicht falsch, ich liebte es, sie so frei zu sehen, auf ihrem Weg zum Klavierunterricht, Tennis und zu ihrer Unabhängigkeit, ich wünschte nur, es wäre nicht alles so plötzlich gekommen. Als ich wusste, dass ich bald zu gehen hatte, wirkten Sandburgen Dekaden entfernt.
Das letzte Mal als ich sie sah, machte sie gerade Geografie und ich kam, um ihr die Hausaufgaben erträglicher zu machen. Wir redeten wie immer, nichts deutete darauf hin, dass dies unser letztes Treffen sein könnte. Sie erzählte Neuigkeiten aus der Schule und wir lachten. Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich etwas gesagt, keine große Verabschiedung, aber… irgendetwas anderes. Kurz darauf war ich verschwunden.
Dann verließ ich unser Haus, unsere Straße, diese leicht verwirrende Welt. Es war keine Tragödie, ihre Mutter mochte mich, aber das war auch alles, ich glaube ihr Vater hat mich nie wirklich wahrgenommen. Die Welt dreht sich weiter, zumindest für die meisten von uns. Ich frage mich oft, ob sie sich noch an mich erinnert und welche ihrer Träume wertvoll genug waren, um von ihr gelebt zu werden.
Das ist wohl der Lauf der Dinge. Und hier im Himmel lässt es sich aushalten, zumindest vorübergehend. Derzeit kommen reichlich Neue an. Heutzutage werden wohl viele Kinder groß, wahrscheinlich alle wirklich klug. Aber zum Glück werden auch viele neue Kinder geboren, die alle treue Freunde brauchen. Erwachsene sagen wir sind erfunden, zum Glück wissen es Kinder besser.