Tagebuch

Wettbewerbsbeitrag von lena wirth, 22 Jahre

wir stehen vor einer krise.
wahrscheinlich sind wir schon mittendrin.
du hast dich verändert und ich muss herausfinden, was das für uns bedeutet.
ich hab angst, ich könnte dich verlieren. nicht auf die art, dass du mir abhanden kommst, sondern die art, wenn man sich schon zu sehr voneinander entfernt hat, ohne dass es einem von uns bewusst war. die art, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat, weil alles ungesagte in der luft kreise zieht und das atmen schwer macht. ich habe angst, das uns, das wir, was die letzten sechs jahre unsere leben miteinander verbunden hat, könnte in seine einzelteile zerbrechen. und obwohl ich so verdammt viel angst habe, glaube ich an uns, als könnte es gar nicht anders sein.

gehüllt in kaltem schweigen nutzt sich unsere liebe ab. sie bröckelt, gibt dem widerstand nach, bricht in sich zusammen. aber sie hält das aus. sie zerbricht nicht in ihre anatomischen einzelteile. sie hält zusammen, was zusammen halten soll.
daraus erblüht die schönste und stärkste form ihrer selbst. sie schließt ihre wunden, sie hält fester zusammen, sie macht den einsturz nicht mehr möglich.
sie ist eingebettet in lauten hoffnungen, schreit förmlich mit blicken nach gesehen werden. sie ruht in mir, als wäre sie längst ein teil von mir. längst gewesen, bevor ich wusste, dass es sie gibt. ich glaube, liebe braucht ein zuhause, irgendwas worauf sie sich bezieht. sie hat ihr zuhause in dir gefunden.

das uns, das wir, was die letzten sechs jahre unsere leben miteinander verbunden hat, ist in seine einzelteile zerbrochen. wenn mein leben früher ein feuerwerk war, ist es jetzt die stille danach.
zuletzt waren wir nicht chaos und auch nicht explosiv. wir warteten stillschweigend, jeder leidend für sich selbst.
zuletzt haben wir uns nicht angeschrien, nicht gestritten. wir redeten aneinander vorbei, weinten gemeinsam, als das maß bereits voll war.
zuletzt haben wir aufgehört uns zu sagen, dass wir uns lieben. wir haben gründe genannt, warum es kein uns mehr geben kann.
zuletzt haben wir uns nicht mehr angesehen, haben uns nicht mehr berührt. jeder behielt seine hand bei sich, wir schliefen abgewandt voneinander ein.
zuletzt sagtest du, dass du dich von mir ungeliebt fühlst.
zuletzt sagte ich, dass ich mich von dir ungeliebt fühle.
und zuallerletzt habe ich geglaubt, dass wir uns trotz allem lieben wie zu dem zeitpunkt als wir sechzehn waren, nur inniger, tiefer, größer, sicherer und trotz allem verständnisvoller.

in meinen schwachen momenten schleichst du dich ein.
hasse dich gerade dafür mit welchem gefühl du mich hier zurück lässt.
und wir beide wissen, dass hassen im kontext mit dir nicht existiert, nicht existieren kann.
trotz allem glaub ich, dass es meine stärksten momente sind. die momente, in denen ich dich hereinlasse und weiß, wie sehr das schmerzt. die momente, in denen ich nicht versuche dich wegzuschieben. ich will gerade nicht weglaufen, dabei weiß ich, dass es in diesen moment leichter wäre. ich muss das fühlen.
ich vermisse dich heute sehr, nicht blass wahrnehmbar in ecken versteckt, sondern hingebungsvoll und einnehmend. im getümmel eines stressigen tages denke ich an dich. ich halte am straßenrand, weil ich die worte, die mir im kopf entgegenhallen, festhalten möchte. vielleicht gehen sie mir sonst verloren, wie auch du mir verloren gegangen bist. heute erdrückt mich dein fehlen.
ich bin davon ausgegangen, dich in meinen ruhigen momenten zu vermissen, aber nicht davon, dich in den gefülltesten momenten wie einen schwer gepackten rucksack auf meinem rücken zu tragen.

ich glaube ich habe dir verziehen.
monat für monat ist vergangen und manchmal frage ich mich, wie ich es ohne dich geschafft habe.
und weißt du, was ich mittlerweile glaube?
ich wäre heute nicht an dem punkt, an dem ich mich befinde, wenn du geblieben wärst.
meiner erfahrung nach lassen uns die schmerzhaftesten momente am meisten wachsen. und so haben sich die letzten monate angefühlt.
es war so viel leichter, die erwartung an jemand anderes zu stellen. nach deinem gehen musste ich lernen für mich selbst jemand zu werden, denn da war sonst niemand. ohne dich an meiner seite konnte ich mich nicht mehr darauf ausruhen.
ich habe darauf gewartet, dass mich jemand aus diesem schlamassel zieht, bis ich begriffen habe, dass ich mir meine eigene hand anbieten muss.
im schlimmsten fall kommt niemand um mich zu retten.
im schlimmsten fall habe ich nur mich.

du bist eingebrannt in die grundstruktur meines herzens, kann dich dort nicht entfernen. du bist mir unter die haut gegangen, wie noch niemand in der geschichte meines lebens.

mich überkommt eine traurigkeit, deren ursprung zu dir zurück zu führen ist. es kommen immer wieder momente, da ist es schwer ohne dich. und trotzdem gibt es mittlerweile viel mehr momente, in denen ich klarkomme. ich schließe gerade frieden mit dir, mit uns, mit unserer vergangenheit. wir haben das gegeben, was uns möglich war. gerade tut es mir seit wochen wieder unendlich weh. weißt du, was ich so schlimm finde? wir haben komplett aufgehört füreinander etwas zu sein. wir waren das wichtigste füreinander und jetzt haben wir seit monaten nicht mehr miteinander gesprochen. wir haben aufgehört. nicht nur damit. wir haben aufgehört uns zu bemühen. wir haben aufgehört uns füreinander zu bemühen.
himmel dunkel, herz schwer. vielleicht weht der wind nicht nur meine haare beiseite, sondern auch meine gedanken.

auch wenn du nichts davon mitbekommst, bin ich dabei dich loszulassen. ich will nicht mehr mit anlauf gegen eine wand rennen und die schmerzen verkraften müssen. ich möchte keine zurückweisungen mehr erfahren, wenn ich meine liebe nach außen trage. ich möchte nicht mehr für jemand anderes mich selbst verlieren. wenn du irgendwann wieder heimfindest, weiß ich nicht, ob ich dort noch zu finden bin. ich werde nicht mehr warten, ich werde laufen. wer weiß schon wohin. ich werde nicht mehr stehenbleiben und mich nach dir umsehen. du hast dich entschieden, mir wieder fremd zu werden. fremder, vielleicht lernen wir uns irgendwann nochmal kennen. vielleicht wirst du mir für immer fremd bleiben. mach’s gut.

deine abwesenheit bringt einen versuch. den versuch, für mich etwas zu werden, was ich noch nie war. für mich selbst die person zu sein, nach der ich auf der ganzen welt schon gesucht habe. auch in dir. deine abwesenheit bringt mir das wissen, die person nur in mir finden zu können. ich habe erwartet, dass du etwas für mich bist, was ich selbst nicht sein konnte. das war zu viel verlangt. ich habe vieles begriffen und vieles noch nicht. ich weiß, dass du deinen platz behalten wirst, dass mein herz an dir hängt wie am leben an sich. ich bemerke gerade, dass leben findet in meinen körper zurück. langsam, aber spürbar.
manchmal überkommt mich die traurigkeit noch und wenn sie geht, zeigt sich die dankbarkeit wieder. danke für die gemeinsame zeit, danke, dass wir bis hierhin gemeinsam gegangen sind. ich glaube, wir haben die aufgabe im leben des anderen erfüllt und dann war es zeit zu gehen. danke, für das was war, aber nicht mehr sein konnte.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: lena wirth, 22 Jahre