Mauern aus Eis

Wettbewerbsbeitrag von Mayvii K.W., 22 Jahre

Das Erste woran ich denke, wenn ich morgens aufwache ist der Tod. Wenn man einmal dem Tod begegnet ist, erscheint es einem fast unmöglich ihn wieder gehen zu lassen. Er kann einen Quälen, manchmal jedoch auch Trost spenden. Er ist nicht böse oder gut, sondern einfach nur da. Er ist immer an meiner Seite und erinnert mich daran, wer ich war, bevor ich ihn traf. Davor war ich ein glückliches Kind, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und nach noch mehr Spaß. Ich hatte tolle Freunde, eine Menge Wünsche und sehr große Träume. Ich liebte meine Familie, meinen süßen Hund und die Welt. An den meisten Tagen fühlte es sich so an, als ob die Welt mich ebenfalls liebhatte. Meinen Vater hatte ich besonders gern, da ich oft an Wochenenden alleine bei ihm war. Er war sehr Respekt einflößend und manchmal konnte er auch ziemlich streng werden, doch er gab mir stets das Gefühl, geliebt zu sein. Abends kitzelte er mich manchmal so lange, bis ich vor Lachen Tränen in den Augen hatte. Das prägte sich besonders in mein Gedächtnis ein.

Doch dann starb mein Vater. Der Tod holte ihn zu sich, nachdem der Krebs meinen Vater in die Knie gezwungen hatte. Und so schnell änderte sich für mich alles, denn mit ihm starb auch mein innerliches Kind. Ich merkte nicht sofort, dass ich nun anders war. Dass ein Teil von mir fehlte. Doch ich spürte es zum ersten Mal an dem Tag, als ich meinen Vater in seinem offenem braunen Sarg liegen sah. Er war in schlichten und doch schönen weißen Leinen gekleidet und sah aus, als würde er schlafen. Ich hatte unglaubliche Angst und musste so stark schluchzen, dass ich kaum Luft bekam. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, ihn dort so liegen zu sehen. Als wäre er doch noch irgendwie hier bei mir. Ich wollte ihn nur noch einmal berühren, ihn bei mir haben und von ihm getröstet werden. Also griff ich nach seiner Hand. Mein Vater hatte große Hände, die immer sehr sanft und warm waren. Doch diesmal war seine Haut eiskalt. So verdammt kalt. Ich spürte, wie ich diese Kälte in mir aufnahm. Wie sie von seiner Hand in meine wanderte und sich von dort in meinem ganzen Körper ausbreitete. Sie betäubte meine Sinne, jede Zelle, jedes Gefühl und grub sich schließlich gewaltsam in mein Herz. Erst als die letzte Restwärme aus meinem Körper und Herzen vertrieben war, ließ ich seine Hand los.

Den restlichen Tag vermied ich es, seinen leblosen Körper anzuschauen oder ihn zu berühren. Die Welt drehte sich nach diesem Tag einfach weiter, so als ob sie nicht bemerkt hätte, dass sie einen Menschen weniger beherbergte. Mein Leben nahm wie gewohnt seinen Lauf, doch mein kaltes Herz blieb, selbst als die Jahre vergingen. Doch manchmal, wenn der Tod mir zu nah kommt und über mich hinwegstreicht, überkommen mich für einen Atemzug lebhafte Erinnerungen an meinen Vater, an seine tiefe Stimme, seinen Geruch und seine festen Umarmungen. Dann durchbricht für einen kurzen Moment Liebe die Mauern aus Eis, die mein Herz so streng bewachen. Und obwohl die Liebe, das Licht und die Wärme mein Herz nur kurz berühren, schmilzt jedes Mal ein Stück des Eises dahin und mein Herz schlägt ein wenig kräftiger und fester.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.