Fitness zu Kriegszeiten

Wettbewerbsbeitrag von Aaron Jonathan Warnecke, 26 Jahre

Alexeys Handy klingelte. Iwan. Immer rief sein bester Freund zu den schlechtesten Momenten an. Alexey wollte nur ruhen. Die letzten Tage waren stressig gewesen, seine Frau und Tochter aus dem Land geflohen, er alleine im Bungalow und nun tagsüber auf den Posten, um Kiew im Falle des Angriffs zu verteidigen.
Gerade fühlte er sich ausgehungert und leer. Würden seine Bemühungen dabei helfen, Goliath zu verscheuchen? Sie arbeiteten alle mit größter Mühe, auch um auszuhalten, falls die NATO sich doch einmischte. Aber keiner glaubte daran. Es gab nur keine andere Lösung.
Die Straßenzüge waren leer, einige Gebäude bereits ausgebrannt. Auf den Straßen fuhren nur kleine Transporter. Die meisten Menschen hockten wohl gerade in ihren Kellern. In einiger Entfernung hörte man das Heulen eines Rettungswagens. Vielleicht kommt morgen der Russe.

Zuhause erwartete ihn das letzte eingefrorene Essen seiner Frau. Bald musste auch er gucken, wie er an genug bei den Sammelstellen kam. Alle Sorgen lösten sich, wenn die russischen Truppen Kiew erreichen. Dann hätten sie andere.
Er schaute wieder auf sein Handy. Iwans Anruf war vorbei. Morgen würde er sich melden.
Eine Textnachricht erschien: „Wo bist du?“
Alexey ignorierte die Nachricht von Iwan und steckte sein Handy wieder ein. Es dämmerte. Wenn er vor der Ausgangssperre ankommen wollte, musste er sich beeilen.
Er beschleunigte seine Schritte und lief weiter mit betrübtem Gemüt. Wieder vibrierte sein Handy. Es ist sicherlich wieder Iwan. Er ließ es in der Tasche, aber schon bei der nächsten Vibration hielt er es doch reflexartig in der Hand. „Verdammte Sucht.“
„Sascha.“ „Alles gut?“, las er dort. Iwan machte sich wirklich Sorgen. Vielleicht hat eine russische Rakete das Viertel getroffen. Wie sollte er nur seiner Frau erklären, dass das Haus kaputt ist. Er beschleunigte noch einmal die Schritte, das Handy weiter in der Hand.
Es vibriert noch einmal.
Endlich fühlte er sich danach die Nachrichten zu beantworten und blickte wieder drauf.
„Ich brauche dich. Ich will Pumper werden! -Lachsmiley-“

Alexey fluchte. Verflucht sei Iwan und all sein Schabernack, den er über die Jahre getrieben hatte.
„Kommst du Ecke Mariupolstraße?“ Noch eine Nachricht von Iwan. Die Straße war gar nicht so weit weg. Er würde nicht einmal einen Umweg laufen. Aber war die Straße nicht in den Nachrichten gewesen? Dort war eine Rakete eingeschlagen.
Zwei Straßen weiter sah er das Gebäude. Der Dreck von der Straße war weggeräumt. An der Ecke war vor wenigen Tagen noch ein gutbesuchtes Fitnessstudio, das auch er kannte und sich immer gewünscht hatte hinzugehen, immer wenn er vorbeikam. Das hatte sich jetzt erledigt. Vor ihm sah er das Gerippe des Gebäudes, in dem geisterhaft Hometrainer standen. Das Tageslicht war mittlerweile verschwunden und der größte Teil des Gebäudes lag in Finsternis vor ihm. Aber nirgendwo sah er Iwan.
Der Blick, die Straße hinauf und wieder hinab, half nicht. In den Häusern brannte kein Licht. Anscheinend hatten auch jetzt die Leute schon Angst, mit ihrem Licht russischen Flugzeugen den Weg zu weisen. Die Wahrscheinlichkeit war schon irgendwie da, aber Alexey wünschte sich trotzdem gleich in Frieden den Fernseher anzumachen und sich weiter zu informieren über den Krieg. Er lachte kurz auf. Wie viele Monate und sogar Jahre könnte man den Kampf aushalten, ohne wahnsinnig zu werden?

„Alexey! Du hast es geschafft!“, hörte er es aus der Ruine rufen. Etwas rumpelte und dann kam Iwan mit einem Schal über sein unteres Gesicht aus dem Gebäude. In seinen Händen trug er einige schwarze Gewichtscheiben für eine Hantel.
„Was machst du da?“, rief Alexey überrascht aus. Die Verwunderung musste in Alexeys Gesicht geschrieben sein, denn auch Iwan wirkte kurz perplex.
„Ich mache das Beste aus der Situation und besorge mir was zum Trainieren. Damit boxe ich die Russen weg!“
Er lachte sein heiseres Lachen, das Alexey als Automatismus nach einem der vielen schlechten Witze Iwans kannte. Dann stellte er die Scheiben an der Straße ab.
„Du hast hier sonst niemanden gesehen?“
Alexey schaute ihn immer noch verwirrt an.
„Du klaust jetzt hier doch wirklich nicht…“
„Klauen? Kümmert sich keiner rum. Weißt du: Es ist doch das Beste, wenn ich jetzt hier ein wenig trainieren kann, um dann…“
„Willst du mich verarschen? Dafür hast du mich hierhergeholt?“
Iwan hob abwehrend seine Hände.
„Musst ja jetzt nicht so eine schlechte Laune haben. Geh doch nach Hause und blas Trübsal!“
Noch einmal brach die ganze Situation für Alexey zusammen. Seine weinende Tochter am Tag des Abschieds, die Vorbereitungen im Stadtzentrum, der Anruf von seinen Eltern, die im Landesinneren wohnten und nicht wissen, was sie jetzt tun sollen und dann noch Iwan, den das anscheinend alles nicht juckte.
„Du dummer Arsch. Hast du dich überhaupt freiwillig für irgendwas gemeldet?“, brüllte Alexey seinen Freund an. Dieser verzog jetzt auch sein Gesicht.
„Ich lass mich jetzt von dir nicht runtermachen. Mann, ich bin auch zu den Sammelstellen, habe mir die letzten Nächte die Füße krumm gestanden und jetzt beleidigst du mich.“
„Du weißt ganz genau, dass ich hier nicht der Arsch bin“, entgegnete Alexey.
„Dann beweis es doch“, entgegnete wiederum Iwan mit seinem verschmitzten Lächeln.
Sie stürzten sich in die Arme auf die ruppige Art. Sie wandten sich in einem Tanz, ohne Recht zu wissen, ob jetzt der eine oder andere losschlagen sollte. Alexey riss sich wieder los.

„Scheiße. Iwan, begreifst du nicht den Ernst? Jelena und Maria sind an der polnischen Grenze. Ich stecke hier fest und du willst wieder einen deiner dummen Jungenstreiche durchziehen. Wir sind zu alt für den Scheiß. Ich bin einfach zu alt! Ich möchte nur nach Hause, aber nicht alleine, sondern in Frieden mit Jelena und Maria. Scheiße! Iwan, kapierst du das nicht?“
In Alexeys Augen lagen Tränen und auch Iwans Blick wandelte sich. Noch einmal lagen sie sich in den Armen, diesmal, weil Iwan versuchte Alexey zu trösten.
„Ich verstehe dich voll und ganz. Aber ich habe niemanden, der auf mich wartet. Du kennst mich doch, Alexey. Es ist nur mein Versuch mit der Scheiße in der Welt umzugehen. Ich kann nicht anders.“
Da war wieder sein Lächeln. Diesmal wirkte es gütiger. Hinter dem Spitzbuben war eben doch ein Erwachsener.
„Ich weiß. Geh nach Hause. Du kannst immer noch nach dem Krieg ein Pumper werden.“
Iwan lachte.
„Falls wir Putin überleben, gehe ich nicht pumpen, sondern suche mir eine Frau, mit der ich glücklich werde.“
Alexey klopfte ihm auf die Schulter.
„Ich wünsche dir eine gute Nacht, Iwan.“
„Wir sehen uns. Spätestens da oben.“
Iwan zeigte mit dem Finger hoch und Alexey lachte.
Dann drehte er sich weg, um den restlichen Weg nach Hause zu laufen. Eigentlich hatte er Iwan noch „Sag sowas nicht“ oder Ähnliches sagen wollen. Er wusste nicht, ob sie sich wiedersehen würden, genauso wenig, ob er den nächsten Tag überleben würde. Vielleicht war Iwans Art doch ein bisschen besser, um in diesen Tagen zu überleben. Oberflächlich sah die Welt noch immer nach Spaß aus, als sie gerade war.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.