Meeresflüstern

Wettbewerbsbeitrag von Lena Handwerg, 20 Jahre

Der Wind, der über den Strand huschte, zerzauste mir meine Haare. Ich nahm einen tiefen Atemzug. Die salzige Luft tat meinen Lungen gut. Es war ein wenig kalt, weswegen ich meine Jacke noch fester um mich schlang. Seit dem Tod meiner Eltern war ich oft am Strand. Es war, als würde ich ihnen so näher sein. Sie starben bei einem Bootsunfall. Ich wurde gerettet, doch für sie kam jede Hilfe zu spät. Seither traue ich mich weder auf Boote, noch schwimmen zu gehen. Ich bekomme panische Angst, wenn ich nur darüber nachdenke. Aber am Strand fühlte ich mich sicher. Hier kann mir nichts passieren. Ich ging an einer kleinen Familie vorbei. Sie sahen so glücklich aus. Es machte mich wirklich traurig. Ich verfluchte das Universum jeden Tag für meinen Verlust. Der kleine Junge schien nicht älter als ich es damals gewesen bin. Ich wand mich ab, denn zu schmerzhaft war das Bild der glücklichen Familie. Ich ging noch für gefühlte 10 Minuten, bevor ich wieder umkehrte. Es wurde langsam wirklich kälter. Ich begann zu zittern. Heute hatte ich es schwerer, die See anzuschauen. Es war als wäre ich zurück an dem unglücklichen Tag. Kalte Luft, heftiger Wind und die unbeugsame See. Ich fühlte mich so leer. Ich kam gerade wieder an den Badetüchern der Familie vorbei. Die Eltern waren weg und nur der kleine Junge spielte im Wasser. Plötzlich aus dem Nichts kam eine große Woge. Der Junge hatte keine Chance. Das Wasser brach über ihm zusammen. Mit Schock konnte ich nur auf die Stelle starren, wo der Junge vorher gestanden hatte. Ich rann aufs Wasser zu. Doch blieb kurz bevor es mich berührte stehen. Ich konnte es nicht. Todesangst packte mich. Jede Faser meines Körpers schrie zur Flucht. Der Junge tauchte kurz auf, nur um dann wieder unterzugehen. Es war als wäre eine Wand vor mir. Ich schrie um Hilfe. Doch niemand war da. Niemand, der sie retten konnte. Was wird denn jetzt aus ihnen? Ich konnte sie doch nicht sterben lassen. Meine Eltern. Sie würden erneut sterben. Ich hatte Probleme, zwischen Realität und Erfindung zu unterscheiden. Mein Blick war fixiert auf die Stelle, an der der Junge eben aufgetaucht war. Einen Schritt nach vorne. Nur einen einzigen Schritt. Ich musste es tun. Das Wasser berührte mich und ich schrie auf. Es war als hätte ich mich verbrannt. Ich konnte kaum atmen und übergab mich ins Wasser. Der Junge tauchte wieder für eine Sekunde auf. Auf Knien tastete ich mich vor. Ich war jetzt im Wasser. Jede Schwimmbewegung brachte mich näher an den Jungen. Noch immer hatte ich panische Angst, doch ich musste sie retten. Ich sah meine Eltern. Sie halfen dem Jungen an die Oberfläche nur für eine kleine Sekunde. Ich hatte ihn. Er atmete nur sehr schwach. Mit der letzten Konzentration, die ich aufbringen konnte, brachte ich uns beide zurück. Wir waren am Leben.

Am Strand angekommen, liefen die aufgeregten Eltern auf mich zu. Die Mutter weinte. Der Vater versuchte sich an Erster Hilfe. Es war ein Chaos, aber er war am Leben. Ich begann jetzt auch zu weinen. Ich hatte es geschafft. Er war am Leben. Ich flüsterte das wie ein Mantra vor mich hin, bis ich kollabierte. Ich hatte einen Traum. Meine Eltern waren dort und auch der kleine Junge. Wir waren auf dem Boot. Das Boot von dem Unglück. Es war wunderschönes Wetter. Doch ich wusste, es würde gleich umschlagen. In meinen Albträumen sah ich diese Szene immer wieder. Es war furchtbar. Doch diesmal geschah… nichts. Wir verbrachten alle einen schönen Tag auf See. Der kleine Junge, meine Eltern und ich. Sie erzählten mir, wie stolz sie auf mich sind. Unter Tränen wachte ich auf. Ich war in einem Krankenbett. Ich weinte, doch endlich hatte ich das Gefühl, ein großer Stein wäre von mir gefallen. Ein Arzt kam ins Zimmer. Er erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden. Mir ging es soweit gut. Es war wahrscheinlich nur der Stress, der mich kollabieren ließ. Dies erzählte ich ihm auch. Ich fragte nach dem Jungen und mir wurde erzählt, dass er dank mir überlebt hatte. Ich war froh, wirklich heilfroh. Eine Stunde danach besuchten mich die Eltern und bedankten sich überschwänglich bei mir. Von dem Tag an arbeitete ich an meinen Ängsten. Ich sah, dass man sie bekämpfen konnte. Ein paar Jahre später gehe ich wieder schwimmen, ohne Angst zu haben. Ohne panische Krämpfe und ohne ständig meine toten Eltern zu sehen. Ich hatte es geschafft. Ich war… frei. Meine Eltern konnten jetzt in Frieden ruhen.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.