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Wettbewerbsbeitrag von Cino, 21 Jahre

Ich stehe am Bahnhof und suche mir eine Person raus, die ich beobachten kann. Das mache ich ab und an. Dieses Mal ist es eine junge Frau, etwa 20, ein wenig dicklich.
Sie sieht irgendwie traurig aus und ich hätte sie gerne umarmt und ihr gesagt, dass alles gut werden wűrde. Aber so etwas traue ich mich nicht.
Wieso weiß ich selber nicht. Es hätte ihr vielleicht den Tag ein Stűckchen schöner gemacht. Und mir auch.
Aber naja, so ist das eben. Mit fremden Menschen in Kontakt treten.
Ich stehe also weiter und denke nach.
Mein Blick schweift ab und eine Zeit lang sehe ich gar nichts.
Nur Bilder vor mir von der Zukunft und wie es wohl wäre, reich zu sein und keine Probleme zu haben.
So stell ich mir das manchmal vor.
Ich werde von einem Obdachlosen aus meinen Gedanken gerissen.
Er hat eine Kappe auf und einen Becher in der Hand, auf dem etwas steht. Aber ich bin zu langsam, um es zu lesen.
Er fragt mich nach etwas Kleingeld, und ich gebe ihm einen Euro.
Wie der wohl dazu gekommen ist zu betteln?
Sofort habe ich einige Geschichten im Kopf, aber wirklich vorstellen kann ich es mir nicht. So etwas tun zu műssen.
Ich habe wirklich Glűck im Leben. Das ist einem oft nicht so bewusst, denke ich.
Der Zug kommt und ich steige ein.
Ganz vorne, das ist am nächsten zum Bahnhofsausgang.
Weniger laufen. Mehr Zeit.
Zeit wofűr?
Ich sitze also in der Bahn.
Ganz vorne.
Neben mir ein Typ mit Handy in der Hand und Airpods drin. Der bekommt bestimmt nicht viel von seiner Umwelt mit, denke ich.
Statt es ihm gleichzutun, schaue ich nach draußen und beobachte die Landschaft, die an mir vorbeizieht. So viele Häuser. So viele Menschen. Manchmal frage ich mich, wie deren Leben aussehen.
Ganz anders als meins? Oder haben die dieselben Probleme wie ich? Die Angst, nicht gut genug zu sein und alles, was man gerade tut nur zu tun, um am Ende zu scheitern?
Aber wenn es doch das ist, was einen glűcklich macht? Warum dann nicht genau das tun? Es fűhlt sich komisch an.
Manchmal fűhle ich mich wie ein Außenseiter.
Wirklich.
Obwohl ich viele Freunde habe, und mit denen auch gut klarkomme.
Vielleicht will ich auch ein Außenseiter sein.
Was besonderes.
Anders.
Schon ein dummer Wunsch.
Ich merke, dass ich erneut abgeschweift bin und nichts gesehen habe. Nichts außer einem roten Punkt von irgendeinem Licht.
Ich richte mich auf und blicke den Gang zurűck, um nach Kontrolleuren Ausschau zu halten.
Ich fahre nicht schwarz, aber ich habe trotzdem fast jedes Mal Herzklopfen, wenn ich Kontrolleure sehe. Könnte am Gras liegen, dass ich manchmal dabei habe.
Es scheint keiner zu kontrollieren, was mich ein wenig beruhigt.
Da ich noch ein wenig Fahrzeit vor mir habe, beginne ich die Sitze zu betrachten und Gesichter in ihnen zu entdecken.
Das macht Spaß, weil man, wenn man nur genau hinschaut und ein wenig Fantasie hat, űberall Gesichter findet.
Probiert das mal aus.
Jedenfalls sitze ich immer noch in der Bahn. Ist ne Strecke, aber ich kann mich ja ablenken. Handy raus und irgendwas spielen? Oder durch Instagram scrollen?
Nein, ich denke das ist nicht das richtige.
Ich öffne meine Tasche und krame mein Buch heraus. "Das Café am Rande der Welt". Ist ganz interessant, wenn man sich fűr so etwas interessiert.
Hinter mir höre ich plötzlich die Stimme eines Kontrolleurs.
"Guten Abend. Einmal die Fahrscheine bitte."
Ich öffne mein Portemonnaie und ziehe mein Ticket heraus.
Den Ausweis auch.
Sicher ist sicher.
Die Kontrolleure sind noch ein wenig entfernt, aber ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ich weiß, dass ich gleich kontrolliert werde.
Außerdem ist es eine Art, von mir abzulenken.
Ich sitze brav da, habe mein Ticket bereit, halte es vor und nichts passiert.
Ein anständiger Bűrger eben.
"Guten Abend. Einmal den Fahrschein bitte."
Der Kontrolleur ist jetzt direkt vor mir und hält sein komisches Gerät vor meine Nase. 
Ich sage Hallo und halte mein Ticket vor.
Es dauert ewig und ich beginne langsam, mir Sorgen zu machen. Aber dann sagt er "Alles klar". Und alles ist klar.
Da ich ganz vorne sitze, sitzen die Kontrolleure jetzt auch da.
Das wars.
Ich kann mich nicht mehr auf die Fahrt konzentrieren.
So eine Scheiße.
Ich lausche einfach der Unterhaltung der beiden und hoffe inständig, dass sie mein Gras nicht riechen, das ganz unten in meiner Tasche in einem Socken versteckt ist.
Beide kommen anscheinend gut miteinander klar, denn sie lachen und machen Witze.
Fűr mich wäre das ja nichts, als Kontrolleur zu arbeiten. Aber wenn man sich gut versteht und denselben Job hat, dann ist es glaube ich egal, als was man arbeitet.
"Irgendetwas riecht hier komisch", meint der eine plötzlich.
Mein ganzer Körper spannt sich an und ich merke, wie ich Angst bekomme.
Das kann jetzt nicht wahr sein.
"Kann sein, dass ich noch n halben Joint in der Tasche habe", antwortet der andere und ich beginne direkt, mich wieder zu entspannen.
Von 70 auf 100 auf 0 in 20 Sekunden.
So viel Glűck muss man mal haben.
Meine Station wird durchgesagt und ich merke, dass die Zeit echt schnell verging.
Ich stehe auf, nehme meine Tasche und gehe zur Tűr. Nach ganz vorne. An den Kontrolleuren vorbei, aber die beachten mich nicht weiter.
Es stört mich nicht wirklich, aber vielleicht hätte ich mir ein klein bisschen gewűnscht, dass sie mich beachtet hätten.
Die Tűren öffnen sich zu meinem Druck auf den Knopf und ich setze einen Fuß auf den Bahnsteig. Dann einen zweiten.
Die frische Luft fűhlt sich gut an.
Viel besser als in der stickigen Bahn und auch nicht so hell hier.
Ich steige die Treppe rauf, die direkt am Anfang der Bahn beginnt und denke wieder darűber nach, dass ich ja jetzt mehr Zeit habe.
Zeit wofűr?
Um das zu tun, was ich gerne tue?
Oder um einfach nur im Bett zu liegen, faul oder antriebslos. Wie auch immer.
Man liegt dann so da, schaut sich irgendwas an, von dem man denkt, dass es einem vielleicht Inspiration oder so etwas gibt.
Isst sogar noch nebenher irgendwas, was nicht wirklich gut fűr den Körper ist. Gerade in den Mengen.
Dann denkt man darűber nach, wie es wäre, etwas zu tun. Etwas wirklich zu tun und gar nicht mehr aufhören zu wollen.
Teilweise ist das so bei mir.
Aber oft ist diese Antriebslosigkeit stärker.
Oder das Gefűhl, dass man das, was man gerade tut, gut kann?
Es ist so einfach und man muss sich keine Gedanken machen.
Mal ist das ja gut, aber jeden Tag aufs Neue?
Davon wird man doch nicht glűcklich.
Ich erreiche das Ende der Treppe und beschließe, etwas Produktives zu tun.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Cino, 21 Jahre