Schon wieder verbrachte Maya die Mittagspause auf der Mädchentoilette, eingepfercht in einer Kabine. Dabei hatte sie sich doch versprochen, dass sie heute ihren Mitschülern klar und deutlich sagen würde, dass diese sie endlich in Ruhe lassen sollten. Sie hatte sich versprochen, dass heute alles anders sein würde. Sie hatte davon geträumt, wie niemand sie mehr mobben würde und, dass sie nicht irgendwann im Laufe des Schultages in einer Toilettenkabine saß und bitterlich weinte, weil sie die Sprüche, die Blicke nicht mehr aushielt. Aber das wären eben nur Träume gewesen. Maya war einfach nicht stark genug, um sich zu wehren, wenn ihre Mitschüler mal wieder sie als „fett“ oder als "Schwein“ bezeichneten oder sie auslachten, weil sie irgendwas falsch gemacht hatte. Und niemand nahm Maya ernst. Als sie zum Beispiel ihren Eltern davon erzählt hatte, hatten diese gesagt, dass das harmlose Neckereien unter Mitschülern waren und, dass sie mal nicht so übertreiben sollte, sie sollte lieber Sport machen, weil sie ja so fett war. Niemand sah, wie sie darunter litt. Und was war darunter harmlos, wenn man konstant über eine Person lästerte, sie aktiv aus der Klassengemeinschaft ausschloss und ihr unter anderem androhte, sie zu vergewaltigen? Nichts. Die ganze Welt hatte sich gegen sie verschworen und sie konnte nichts dagegen tun. Sie schniefte leise und betrachtete ihr Schwarzbrot, das sie bisher noch nicht angerührt hatte. Iss das nicht, ansonsten nimmst du noch mehr zu, dachte sie und betrachtete angeekelt das Brot. Maya packte das Brot in die Dose und atmete tief durch.
Die Tür ging auf und blitzartig zog Maya ihre Beine hoch und atmete leiser. „Ey, Maya heute sieht mal wieder richtig kacke aus! Diese Jacke … ein modisches Desaster!“, hörte sie eine weibliche Stimme sagen. Es war Emily, eine von Mayas Klassenkameraden und eine ihrer schlimmsten Mobber. Ihr Magen zog sich bei diesen Worten zusammen. Ihr standen schon wieder Tränen in den Augen. „Ja, ganz schlimm! Aber ihre Klamotten sehen auch immer so aus, als wenn die Jahrhunderte alt sind. Wer trägt so was freiwillig?“, entgegnete Anna, eine von Emilys besten Freundinnen, spöttisch. Jemand, der kein Geld hat, würde Maya am liebsten losschreien, aber sie war zu feige. Also hörte sie einfach weiter zu, während sie versuchte, so gut wie es geht lautlos zu weinen. „Jemand ohne Modegeschmack, der ein kleines Opfer ist. Maya also", lachte Emily, Anna fiel in das Lachen ein. „Aber ernsthaft, Maya ist so ein kleines Opfer! Können wir sie nicht irgendwie loswerden?", fragte Anna nachdenklich. Maya gefror das Blut in den Adern. Bisher wurde sie ein-, zweimal verprügelt, aber so richtig wurde sie noch nicht verletzt. Bitte lass das nur einen blöden Scherz sein, flehte sie. "Warum haben wir da nicht schon früher gedacht?! Wir könnten irgendeine Schraube bei ihrem Fahrrad lockern oder sie aus Versehen anfahren. Komm, lass zu den anderen, wir müssen das besprechen!", rief Emily begeistert. Maya hörte hastige Schritte, das Knallen einer Tür und dann waren beide weg. Sie befand sich in Schockstarre. Das musste ein schlechter Scherz sein! Was hatten die nur ein Problem mit ihr?! Maya tat niemanden etwas, sie war doch nett! Jetzt flossen ihr so richtig die Tränen übers Gesicht. Ich will doch einfach nur in Ruhe gelassen werden, dachte Maya verzweifelt. "Also, berichte nochmal ganz genau, was deine Klassenkameradinnen auf der Toilette gesagt haben.", sagte die Polizeibeamtin freundlich. Maya atmete tief durch. "Die Zwei haben über meine Klamotten gelästert und dann hat Anna gefragt, ob sie mich nicht irgendwie loswerden können. Emily fand die Idee mega toll, sie hat vorgeschlagen, dass sie bei meinem Fahrrad eine Schraube lockern können oder mich absichtlich anfahren. Am Ende meinte Emily dann noch, dass sie zu den anderen gehen sollten und das mit ihnen besprechen sollte. Dann sind sie gegangen.", erzählte sie. Mayas Bremsen hatten versagt, als sie einen Berg herunter gefahren war und deswegen war sie, zum Glück nur, in den Büschen gelandet. Sie hatte nur mehrere Schürfwunden davon getragen, aber der Schock saß immer noch fest in ihren Knochen. Maya war ziemlich sicher, dass ihre Klassenkameraden dahinter steckten, immerhin hatte sie so eine ähnliche Drohung ausgesprochen. Die Polizistin nickte und kritzelte etwas auf einen Notizblock. Dann wandte sie sich an die junge Frau, die neben Maya aß. "Und was genau haben Sie gesehen?" "Ich war auf dem Weg zur Bank und habe dann gesehen, wie dieses Mädchen mit einer wahnsinnig hoher Geschwindigkeit den Berg runtergerast ist und verzweifelt versucht hat, abzubremsen. Dann ist sie in den Büschen gelandet und ich bin zu ihr gerannt. Man hat ganz klar gesehen, dass die Bremsen manipuliert worden war. Und dann habe ich die Polizei gerufen und hier sind wir.", sagte die junge Frau, die sich als Viktoria vorgestellt hatte. "Maya, hast du das Ganze auch so erlebt?", fragte die Beamtin. Maya nickte. "Okay, mit der Zeugenaussage und den Chatauszügen, die du uns vorhin gezeigt hast, haben wir genügend Beweise. Das reicht, um deine Klasse zur Verantwortung zu ziehen", erklärte die Polizistin. Als sie auf dem Revier ihre Eltern angerufen hatte, hatte sie eine Nachricht von Emily gekriegt; Hoffe, du stirbst. Niemand braucht ein Opfer wie dich. Auch Anna hatte ihr eine Nachricht geschickt: Endlich sind wir dich los! Hoffentlich leidest du. Dazu kamen noch etliche Beleidungen durch die Klassengruppe. Maya lächelte. Endlich geschah etwas! Hoffnung machte sich in ihr breit. Vielleicht war ihr Leben doch nicht komplett am Eimer. Gedankenverloren betrachtete Maya ein Foto von ihr aus der neunten Klasse. In der Zeit war sie extrem gemobbt wurden und war im Endeffekt nur Dank eines Unfalls dem Teufelkreis entkommen. Ihre ehemaligen Klassenkameraden hatten keine Ahnung, was sie Maya mit dem Unfall für ein Geschenk gemacht hatten. So hatte sie, Dank Hilfe der Polizei und dem Frauenhaus, es geschafft, sich zu befreien. Und jetzt, sechs Jahre später, ging es ihr gut, sie war zufrieden mit sich, und hatte nur noch selten schlechte Momente. Heute half Maya Kindern und Jugendlichen, die ebenfalls unter Mobbing litten. Sie lächelte bei dem Gedanken daran. Ja, das Mobbing hatte sie ohne Zweifel unglaublich verletzt und psychisch kaputt gemacht, aber sie war dadurch stärker geworden. Diese Krise hatte ihr viele Dinge bewusst gemacht. Maya war heute fröhlich und genoss ihr Leben. Sie war unglaublich stolz auf sich. Diesen Kampf hatte sie gewonnen und sie konnte kaum erwarten, wie ihr Leben weiterging und was der nächste Morgen für sie bereithielt