Charly wartet sicher schon
Wettbewerbsbeitrag von Saskia Tager, 26 Jahre
Marie war schon fünf, aber ihre Mama trotzdem ganz schön schwer. Es war nicht mehr weit, vielleicht ein paar Minuten zu Fuß, dann wären sie zu Hause. Charly wartete sicher schon an der Tür auf sie, denn heute kamen sie später als sonst. Marie vermisste sein wärmendes Schnurren. Sie hatte sich eigentlich besonders auf diesen Tag gefreut, denn an diesem Nachmittag müsse sie sich nicht entscheiden, ob sie lieber bei Mama oder Papa wäre. Seit sie nicht mehr in dem großen Haus wohnten, sah sie ihren Papa nicht mehr so oft. Er hatte jetzt eine eigene Wohnung, in einer anderen Straße. Manchmal holte Papa Marie vom Kindergarten ab und sie blieb das Wochenende bei ihm. Dann schauten sie zusammen Filme, rätselten an alten Knobelspielen oder spielten Würfelspiele. Fast routiniert standen Marie und ihr Papa am Ende der drei Tage bei ihrer Mama vor der Wohnungstür und handelten noch ein oder zwei weitere Tage aus. Aber dann musste Marie wieder nach Hause, zu Mama. Marie liebte ihre Mama, aber es war schwer mit ihr zusammenzuleben. Es war schwer zu verstehen, wie sie sein sollte, wie das Leben funktionierte. Wenn sie manchmal stundenlang allein war, Charly ihr einziger Freund und eine grausige Stille die Wohnung einnahm, so war sie dann und wann gar überfordert mit der Flut an Aufmerksamkeit, die ihre Mama ihr zukommen ließ. Dann erzählte sie Geschichten über dieses Krankenhaus, weinte, nahm sie fest in den Arm und machte Marie in überwältigender Emotionalität klar, wie wichtig es war, dass sie beide für immer zusammen seien. Marie genoss diese Nähe, und sie erdrückte sie. Ob Papa wohl gerade an sie denkt?
An diesem Tag waren sie alle zusammen. Aber es war ganz anders, als sie es sich gewünscht hatte. Die beiden redeten wieder nur, niemand wollte etwas spielen, und sie tranken. Das hatte Marie noch nie verstanden, denn das Zeug schmeckte scheußlich. Was sie aber verstand war, dass Mama und Papa sich dabei veränderten. Sie waren nicht schlechter oder besser, einfach anders. Manchmal nervten sie dann sehr, manchmal wünschte Marie sich, sie würden überhaupt einen Ton von sich geben. Wenn es nachts war, kam ihre Mama manchmal zu Marie ans Bett und wurde sehr traurig. Die Stimmung war schwer und kaum auszuhalten, dabei war doch alles gut. Oder? Tagsüber war sie sehr müde und Marie gehörte die ganze Wohnung. Hin und wieder tranken Maries Eltern zusammen, dann redeten sie und es war einfach nur langweilig. So war es auch heute und es dauerte nicht lange, bis sie keine Lust mehr hatte, den wirren Gesprächen der Erwachsenen zu lauschen, denen sie sowieso nicht folgen konnte. Aber nun waren sie auf dem Heimweg und Marie freute sich darauf, ins Bett zu gehen. Nicht weil dann bald ein neuer Tag anbrechen würde - darauf hatte sie eigentlich keine Lust. Mama würde wahrscheinlich den ganzen Tag schlafen. Viel eher war sie einfach erschöpft.
Nur noch die Straße hoch, am Kindergarten vorbei, dann links und in den 4. Stock. Dort würde Charly sie in Empfang nehmen und Mama könnte sich an den Wänden der kleinen Dreiraumwohnung festhalten, statt sich weiter auf Maries schwacher Schulter zu stützen. Warum lief sie nicht einfach gerade aus? Marie wollte nicht, dass ihre Mama hinfällt und sich wehtut, aber sie konnte sie einfach nicht halten. Die Straße war hart und kalt, sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Mama würde es nicht allein nach Hause schaffen und Marie wollte für sie da sein. Musste - auf eine liebevolle, aber bedrückende Art. Das Öffnen der Türen und das Hochsteigen der vielen Treppen fühlte sich an wie eine Ewigkeit, aber sie hatte es geschafft. Marie hatte Mama sicher nach Hause gebracht, denn sie war schon fünf und in einer richtigen Familie ist man füreinander da.
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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.
Autorin / Autor: Saskia Tager, 26 Jahre