Tribut an die Hoffnung

Wettbewerbsbeitrag von Katharina Scheipner, 17 Jahre

Ich will ja nicht sagen, dass letztes Jahr alles besser war, aber vielleicht war es das. Alle Fische sind jetzt tot und der Winter wird so kalt, wenn wir nicht am Hochwasser sterben, dann vielleicht an der Kälte, was soll ich denn sagen; die Äpfel im Regen, ich kann nicht mehr schreiben, ich kann nicht mehr schreiben, was soll ich denn sagen, wenn nicht die Wahrheit, warum hast du dich umgedreht damals im Juli, meine Ohnmacht, das Tageslicht, Gott, wie ich das alles hasse und es ist jedes Jahr der gleiche Winter und es sind jedes Jahr meine eigenen kalten Hände, aber letztes Jahr habe ich in jedem Zimmer, in das ich gekommen bin, die Heizung aufgedreht, letztes Jahr war die Kälte noch ein Faktor und keine Strafe, letztes Jahr hatte ich nicht so ein schlechtes Gewissen (aber das ist wahrscheinlich eine Lüge), ein Urlaub wäre jetzt gut, aber wo kann man hin, wo es keine Nazis gibt, wo am Meer kein Plastik liegt, wo man das schlechte Gewissen nicht zum Frühstück serviert bekommt, wo die Obdachlosen einen nicht angucken, als würde ich ihnen etwas schulden; vielleicht schulde ich ihnen etwas. Ich will ja nicht sagen, dass vorletztes Jahr alles besser war, aber vielleicht war es das. Wenigstens waren damals noch nicht die ganzen Fische tot, die ganzen Fische, was hat man mit den vielen Körpern gemacht, wer hat ihnen ihn die toten Augen geschaut, hat eigentlich irgendjemand ein schlechtes Gewissen, was haben sie zuletzt gesehen, bevor sie gestorben sind, haben ihre Kiemen funktioniert, niemand traut sich mehr, ins Wasser zu gucken, wenn doch alles den Bach runtergeht, warum hat denn niemand ein schlechtes Gewissen, das Jahr ist eine Mutante und vor zwei Jahren gab es auch schon Krieg, aber keinen, von dem ich mich nicht abwenden konnte, keinen, der mir Eilmeldungen auf mein Handy schickt über Bomben in Klavieren und Kuscheltieren, stell dir vor, manche Menschen denken, Krieg wäre eine Lösung, stell dir vor, du frierst einen ganzen Winter lang, stell dir vor, du rufst bei der Telefonseelsorge an und niemand geht ran, vor zwei Jahren hatten meine Eltern weniger Falten, vor zwei Jahren waren meine Haare noch nicht so lang, vor zwei Jahren war alles genauso wie heute, nur auf eine andere Art, wem mach ich was vor, vor zwei Jahren durfte man sich auch nicht an den Händen halten, wie soll das nur weitergehen. Und ich frag mich ja, wie es den Fischen ging, als sie ermordet wurden, aber was schlimmer ist, als zu gehen, ist zu bleiben, und manchmal denke ich an die Fische, die übriggeblieben sind, die zwischen den Toten schwimmen, warum ist das Wasser so leer, warum bewegt sich niemand mehr. Wenn wir den Winter überleben, aber auch wenn nicht, ist irgendwann wieder Frühling, und dann sitzen wir hier in der Neujahrskälte mit dem, was vom Winter übrig ist, wem soll ich für das alles verzeihen, an wen soll ich meine Hasstiraden adressieren. Man muss den Winter immer überstehen und dann kann man nur hoffen, dass alle noch da sind, wenn es Frühling wird, man kann nur hoffen, dass irgendwann wieder alles wärmer wird, man muss nur den Winter überstehen. Ich will ja nicht versprechen, dass nächstes Jahr alles besser wird, aber vielleicht wird es das. Vielleicht gibt es nächstes Jahr Zombies, aber dann weiß man wenigstens, gegen wen man kämpfen soll, wenigstens kämpfen dann mal alle zusammen gegen denselben Feind, vielleicht können wir nächstes Jahr unserer schlechten Freunde vergessen, wenn wir ihnen schon nicht verzeihen können, wenigstens hab ich noch mich und alle, die bleiben wollen, es geht immer schlimmer, aber es geht auch immer besser, vielleicht entschuldigt sich jemand für das mit den Fischen, vielleicht kann niemand etwas dafür; nächstes Jahr bin ich anders, aber trotzdem dieselbe, wir sind doch stärker als alles andere, manchmal fragen mich Leute wie es mir geht, manchmal überlege ich, Blumen zu kaufen, es ist gerade alles schlimm, aber wenigstens kommen die Wölfe zurück, das Loch im Himmel wächst zu, Dinge heilen, die Art, wie Menschen an Trinkbrunnen in einer Schlange stehen, wie die Autoscheibenwischer bei Regen automatisch angehen, es gibt Dinge, die funktionieren, nicht alle Menschen sind verbittert, es geht weiter, auch wenn es schwerfällt, ich bewundere Menschen, die meine Schwere aushalten, ich zahle Tribut an die Hoffnung, an die lächelnden Frauen im Supermarkt, an die Menschen, die die Nachrichten ertragen, irgendwann sind die Fische zurück, irgendwann ist das Wasser wieder klar und jemand schafft es, meinen Namen zu sagen, irgendwann weicht ihr meinen Blicken nicht mehr aus, irgendwann haben wir das, was wir alle immer wollten.

Alle Infos zum Wettbewerb

Die Verwandelbar Sieger:innenehrung

Herzlichen Glückwunsch an die Preisträger:innen!

Teilnahmebedingungen und Datenschutzerklärung

Bitte lesen!

Die Verwandelbar-Jury

Die Jury verwandelt eure Einreichungen zum Schreibwettbewerb in wohlwollende Urteile :-)

Preise

Das gibt es im Schreibwettbewerb "Verwandelbar" zu gewinnen

Einsendungen

Die Beiträge zum Schreibwettbewerb Verwandelbar

Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Katharina Scheipner, 17 Jahre