Meine Mutter sagt immer, ich lebe in „Ollies Welt“. Mein Name ist Ollie, ich bin Ollie. Oft muss ich meine Welt mit der Außenwelt vergleichen. Allein dieses Jahr gab es über 200 „Mass Shootings“ in den USA. In der Zentralafrikanischen Republik werden Kinder als Soldaten zwangsrekrutiert. Bei einer Massenpanik in einem indonesischen Stadion sind 125 Menschen getötet worden. Vor fast einem Jahr ist die Mutter einer Klassenkameradin gestorben. Auf der Straße umgekippt. Geplatztes Aneurysma. Hirntot. Vor drei Wochen wurde bei meiner Mutter Eierstockkrebs festgestellt.
Ich kenne mich aus, was Krisen und Katastrophen betrifft. Sie lassen mich für den Moment besser fühlen. Aber spätestens nach einer Stunde merke ich, dass meine Alltagskrisen mir den Kopf abreißen.
„Ollie“, meine Mutter öffnet die Tür. Ich lasse mein Handy fallen. Sie mag es nicht, mich am Handy zu sehen. „Ollie, wir müssen los.“ Heute ist Omas Geburtstag. „Oder kommst du nicht mit?“, fragt sie mit Blick auf meine Hände. Ich ziehe nervös an meinen Nietnägeln. „Doch, doch natürlich.“, sage ich. „Dann komm, Linus wartet.“ Linus ist mein Cousin. Er ist 18 und fährt einen alten Renault Clio. Linus lässt mich vorne einsteigen und zwickt mir ins Bein. Er darf das. Linus ist meine comfort-person. Auf dem Weg zu Oma hören wir schweigend Jazzmusik, weil meine Mutter die mag.
Linus parkt. Ich atme tief ein. Halte die Luft an. Atme langsam aus. Trotzdem habe ich zu viel Spucke im Mund. Meine Mutter geht mit dem Tausendlochkuchen voran. Schon im Garten stehen die Gäste. Ich atme tief ein. Halte die Luft an. Atme langsam aus. Linus hängt den Arm um meine Schultern. Entweder denken alle, wir sind schwul, oder ich gehe wieder komisch. Auf jeden Fall schauen uns — mich — alle an, denke ich. Ich komme nicht hinterher mit dem Spucke runterschlucken. Linus klopft mir auf die Schulter. Brüderlich beruhigend. „Ollie!“, ruft meine Tante laut. Ich ziehe den Kopf ein. Sie hat nun den Tausendlochkuchen in der Hand. Tante Karla umarmt mich nicht. Sie weiß, dass sie das nicht darf. Außerdem kann sie nicht, Linus Arm liegt um meine Schulter. So schiebt mich Linus Arm schützend durch die Gäste hindurch in die Küche. Während dessen denke ich: „Einatmen. Anhalten. Ausatmen“. Auf der einen Torte in der Küche steht eine 80. Die Tür wird geöffnet, meine Mutter steckt den Kopf hinein. „Sind die Kerzen auf der Torte an?“ „Ja.“, sagt Linus und zündet die Kerzen an. Er trägt sie ins Wohnzimmer, dort stehen die Gäste und singen „Hoch soll sie leben, hoch soll sie leben.“. Ich stehe an die Tür gelehnt und vergrabe die Hände in den Hosentaschen. „Danke, meine Lieben!“, klatscht meine Oma. „Ich freue mich, dass ihr alle da seid. Danke an meine Töchter Karla und Uschi für das Vorbereiten! Und ich freue mich ganz besonders, dass meine Enkel hier sind, um mit ihrer alten Oma zu feiern.“ Mein Atem wird schneller. Lächelnd zieht meine Oma Linus an ihre Seite. Suchend schaut sie sich um. „Wo ist denn Ollie?!“. Ich bekomme fast keine Luft mehr. Zu schnell schlägt mein Herz, der Knoten in meinem Hals wird größer. „Da!“, ruft meine Tante, sie deutet mit dem Zeigefinger auf mich. Alle Köpfe drehen sich zu mir um. Ich erstarre. Sie sehen mich an. Ich muss was sagen. Aber mein Gesicht glüht. „Ollie, es haben dich doch alle so lange nicht mehr gesehen.“, sagt Oma. „Komm, Junge.“, ein alter Mann greift zittrig nach meinem Arm. Ich weiche instinktiv zurück. Dann drehe ich mich um, verlasse das Haus. Hinter Linus Clio sitzend schnappe ich nach Luft. Ich hebe die Arme. Darunter kommen große Achselschweißringe zum Vorschein. Das haben bestimmt alle gesehen. Und jetzt reden sie über mich. Ich atme tief ein. Halte die Luft an. Atme langsam aus. Die Blinklichter blinken kurz auf. „Ey, komm.“, sagt Linus und zieht mich am Arm hoch. Im Auto schweigt er und macht die Scheibenwischer an. Sie quietschen und befreien die Windschutzscheibe von braunem Laub. „Ich dachte, es wäre besser geworden.“, sagt Linus. Ich schüttele den Kopf. „Aber du hast doch letztens erzählt, dass du auf einer Straßenseite weitergelaufen bist, obwohl dir dort Menschen entgegenkamen.“ Ich räuspere mich. „Linus, ich — es wird niemals besser werden.“ „Sag das nicht.“ „Linus, ich habe schon Medikamente genommen und eine kognitive Verhaltenstherapie gemacht.“ „Die Medikamente haben doch geholfen. Warum nimmst du sie nicht wieder?“ „Weil ich rückfällig geworden bin und nicht von Medikamenten abhängig sein möchte.“ „Okay.“ Stille. „Warum machst du die psychodynamische Psychotherapie nicht weiter?“ „Ich mag die Therapeutin nicht.“. Ich lehne den Kopf an das kalte Fensterglas und weine leise. Linus legt seine Hand auf mein linkes Knie. Sie ist warm und schwer. „Du hast mir lange nicht mehr von Gwen erzählt.“ „Da gibt es nichts zu erzählen“, sage ich. Ich wische mir die Tränenstraßen von den Wangen. „Ich werde sie niemals ansprechen können.“ „Du solltest wirklich die Psychotherapie wieder anfangen.“ Wir schweigen. „Es gibt da keinen Ausweg“, sage ich. „Falscher Ansatz“, sagt Linus. Ich nicke. „Wir fangen einfach an, zusammen deine Ängste zu konfrontieren.“ „Das haben wir schon vor vier Jahren angefangen.“, sage ich. Linus nickt und schweigt. „Deswegen machen wir jetzt weiter.“ Er parkt am rechten Straßenrand. „So lange, bis es dir besser geht.“ Ich lache frustriert. Linus schnallt mich ab. Ich schaue weiter aus dem Fenster. Die Straße kenne ich. Wir sind bei mir zuhause. „Wir gehen jetzt einkaufen“, sagt Linus. „Nein“, sage ich. Linus steigt aus, geht ums Auto herum, öffnet meine Tür. Er zieht mich aus dem Auto. „Vielleicht sitzt Gwen ja heute gar nicht an der Kasse“, sagt er. Ich bleibe stehen. Das habe ich vergessen. Gwen, das Mädchen aus meiner Klasse mit den silbernen Schlangenringen, die arbeitet hier. Mein Atem geht schneller. „Nein, nein, nein. Wir gehen jetzt eine Limo kaufen.“ Linus zieht mich weiter. Ich folge ihm steif, schwitzend. Ich merke, wie mich die Leute anstarren — bestimmt wegen meines roten Gesichts. Linus nimmt eine Lemonaid aus dem Kühlregal. Dann schiebt er mich weiter zur Kasse. Ich blicke auf den Boden. Dann hole ich mein Handy aus der Jackentasche. Ich öffne Fotos, scrolle, schließe Fotos, öffne WhatsApp, scrolle, schließe es. „1,49 €“, sagt die Kassiererin. Es ist Gwen. Mir wird schlecht. „Hey Ollie, ich habe meinen Geldbeutel im Auto gelassen. Hast du was dabei?“, fragt Linus. Ich blicke ihn für ein paar Sekunden an, gebe einen zustimmenden Laut von mir. Aus den Tiefen meiner Jackentasche hole ich zwei Euro und gebe sie mit zitternder Hand Gwen. „Dein Rückgeld“, sie gibt mir das Rückgeld. Ich werfe einen kurzen Blick auf ihr Gesicht. Sie lächelt mich vorsichtig an. Ich gehe an der Kasse vorbei nach draußen, Linus folgt mir mit der Limonade. „Sie hat mich angelächelt“, sage ich. „Jep“, sagt Linus. „Fühlt sich anders an, oder? Besser.“ Ich nicke. „Morgen wird das wieder weg sein“, sage ich. „Das ist egal, dann machen wir wieder was, das dich anders und besser fühlen lässt.“