Ein Haufen Schrott

Wettbewerbsbeitrag von Maria Schwartz, 16 Jahre

Heute war der Tag der Tage. Heute war es so weit. Die Sonne schien, doch dafür regnete es aus meinen Augen bitterlich auf den Boden. Seit Tagen weinte ich nur noch aus tiefer Trauer, die nie wieder vorbei sein zu schien. Mein Herz fühlte sich so unendlich schwer an und ich brach unter diesem Schmerz zusammen. Ich zog mich in mein Zimmer zurück und weinte, meine Familie starrte mich betroffen an und heute war es so weit. Ich machte mich fertig. Dann setzte sich meine ganze Familie in das Auto und fuhr in die Kirche. Meine Eltern blieben zurück und ich ging in die erste Reihe und setzte mich. Als ich hoch zum Altar blickte, sah ich ein Foto, auf dem er lächelte. Er ist mein bester Freund und er ist tot. Einfach so. er wurde mir auf brutalste Art und Weise genommen und dabei war er genau wie ich erst 16 Jahre alt. Wir kannten uns schon seit wir Kinder waren. Wir haben uns jeden Tag gesehen und haben auch nach unseren Treffen noch telefoniert. Niemand auf der Welt kannte mich so gut wie er. Wir haben uns alles erzählt, es gab keine Geheimnisse. Emil und ich waren fast wie Zwillinge. Nur die Blutgruppe war eine andere. Doch dann bekam Emil die Diagnose. Leukämie. Es war ein langer Leidensweg und Emil kämpfte. Es tat weh, ihn mit solchen Schmerzen zu sehen. Ich besuchte ihn jeden Tag und versuchte ihm zu helfen, wo ich konnte. Doch es gab nicht viel, was ich tun konnte. Also unterstütze ich ihn beim Kämpfen. Doch am Ende hat er verloren. Am Ende habe ich ihn verloren. Ich wünschte, er wäre jetzt statt mir hier. Ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn. Wenn ich könnte, wäre ich jetzt auch bei ihm. Doch als es mit ihm zu Ende ging, musste ich ihm versprechen, dass ich mein Leben weiterleben und niemals aufgeben werde.

Es war ein paar Tage bevor er verstarb. Ich ging zu ihm, um ihn zu besuchen. Er lag auf dem Bett und sah sehr blass aus. Er wirkte verletzlich und mein Herz krampfte sich zusammen. Ich legte mich neben ihn aufs Bett wie jedes Mal und erzählte ihm von meinem Tag. Mittendrin unterbrach er mich. Er sah mich an und sprach: „Ganz egal was passiert, versprich mir, dass du dein Leben weiterlebst und etwas daraus machst. Verspreche mir, dass du wieder lachst und das beste Leben lebst. Versprich mir, dass du niemals aufgibst und optimistisch bleibst.“ All diese Dinge versprach ich ihm damals. Doch ich weiß nicht, wie ich das ohne ihn machen soll. Ich brauche ihn. Niemand auf der Welt kannte mich so wie er. Ich will nicht ohne ihn sein. Seit seinem Tod bleibt nur die eine Frage übrig: warum? Warum wurde er mir genommen. Ich kriege kaum mit, was der Pastor sagt, weil ich zu sehr trauere und die Messe zieht an mir vorbei. Dann ist es Zeit Abschied zu nehmen. Ich stehe vor seinem Sarg und starre hinab. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Also werfe ich die Blumen zu ihm hinab. Doch die Blumen erinnern mich an etwas und schon kommt die Erinnerung wieder in mir auf und ich spiele sie noch einmal ab.

Emil und ich saßen auf einem Hügel auf einer Picknickdecke und sahen uns den Sonnenuntergang an. Es war Hochsommer und dementsprechend warm. Auf einmal begann Emil zu sprechen und er sagte: „Die Gesellschaft wird uns nie mehr geben als einen Haufen Schrott und trotzdem sollten wir mehr als dankbar sein. In einer Zeit von Hunger, Krankheiten und dem Klimawandel hat man an uns gedacht und uns einen Haufen Schrott gegeben. Viele Menschen würden alles für so einen wunderschönen Schrotthaufen tun, doch wir haben ihn bekommen. Wir haben dieses Leben bekommen. Also sollten wir uns bei der Gesellschaft bedanken, denn sie haben uns das Leben gegeben. Die Gesellschaft hat uns zu den Menschen gemacht, die wir heute sind. Wir sind so wie wir sind aufgrund unseres Umfeldes. Wir sind der Haufen Schrott. Jeder Mensch auf der ganzen Welt ist ein Haufen Schrott. Wir sind alle gleich viel Schrott und trotzdem hält sich der eine Schrott für was Besseres als der andere. Lass uns so aber niemals werden. Lass uns der glückliche Haufen Schrott sein, der sich Sonnenuntergänge ansieht und das Leben so wie es kommt annimmt und als Geschenk akzeptiert, welches einem aber immer weggerissen werden kann. Lass uns jede Sekunde genießen und nicht über Kleinigkeiten ägern.
Wir sind Freunde, die ein Leben lang bleiben und versprich, dass du immer an meiner Seite stehen wirst. Lass uns unseren Haufen Schrott in was Schönes verwandeln.“ Ich nickte nur stumm. Als mich jemand vom Sarg wegzog, wurde ich zurück in die reale Welt gezogen. Ich bemerkte ein kleines Lächeln auf meinen Lippen, ausgelöst durch diese Erinnerung. Es war das erste Lächeln seit Wochen und ich hatte schon fast vergessen, wie sich so ein Lächeln anfühlte. Ein wenig Wärme durchströmt meinen Körper bis zu meinem Herzen. Behutsam deckt die Wärme mein Herz zu und hüllt sie ein. Doch hier auf dem Friedhof halte ich es nicht mehr aus. Ich beginne zu rennen. Ich werde immer schneller. Ich will weg von diesem Ort. Schneller und noch schneller renne ich dahin, wo mich meine Füße hintragen. Ich mache erst halt als ich am Hügel bin. Unserem Hügel. Ich setze mich auf das Gras und beginne fast sofort wieder zu weinen, bis ich sanfte Schritte höre. Ich drehe mich herum und mir bleibt der Atem stehen. Vor mir steht Emil. Wie kann das sein? Das ist nicht möglich! Emil ist tot. Doch dennoch steht er vor mir. Er ist komplett in Weiß gekleidet und lächelt. „Hey.“ Seine Stimme klingt so unglaublich vertraut, mir fällt nichts ein, außer ein Hey zurückzusagen. Er setzt sich neben mich und da kann ich die Fragen nicht mehr zurückhalten.
„Bin ich verrückt?“ „Nicht verrückter als die meisten anderen Menschen.“ „Warum kann ich dich sehen? Ist das hier real?“ „Ich kann dir dies nicht beantworten, doch Fakt ist, dass wir beide sitzen und uns unterhalten.“ „Okey. Ich… Ich vermisse dich. Ich hasse es, dass du nicht da bist. Ich will kein Leben ohne dich.“ „Ich weiß. Ich will das auch nicht ohne dich, aber wir haben keine Wahl. Vertrau mir, eines Tages werden wir uns wieder sehen und dann bleiben wir für immer zusammen. Doch jetzt musst du dein Leben führen. Und zwar von nun an für uns beide.“ „Es ist kein Leben ohne dich. Ich habe ohne dich niemanden mehr, dem ich von meinen Erlebnissen erzählen kann, niemanden der mich so kennt wie du. Ich will nicht ohne dich.“ „Aber du musst. Glaub mir, es wird jemand kommen und ich werde auch niemals gehen. Ich bin nie mehr als nur einen Herzschlag entfernt. Jedes Mal, wenn dein Herz pumpt, bin ich da und ich bin es auch noch, wenn es eines Tages aufhört. Ich werde dich niemals verlassen.“ 
„Versprochen?“ „Versprochen!“ 
Dann war Emil verschwunden, doch ein Lächeln blieb auf meinen Lippen und es verschwand nicht. Ich begann aus dem Haufen Schrott etwas zu machen. Ich musste mein Leben weiterleben für zwei. So ging ich durchs Leben und jedes Mal, wenn ich an Emil dachte, huschte mir ein Lächeln übers Gesicht, auch wenn ich ihn vermisste. Und es kam der Tag, an dem ich das erste Mal keine Trauer mehr verspürte. Ich lachte wieder und behielt jede Erinnerung in Ehren. Ich wurde wieder fröhlicher, und mit jedem Tag der verging ein kleines Stückchen mehr.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.