Wir wie der Wald

Wettbewerbsbeitrag von Susanne Sophie Schmalwieser, 21 Jahre

Wir sammeln Kastanien und ich frage mich, ob in meiner Hand Akkupunkturpunkte liegen. Ob, und wenn ja, wie viele. Ein Fliegenpilz, beschienen unter einem Loch im Kronendickicht, strahlt rot wie aus dem Märchenbuch, nur dass er auf der linken Seite aussieht, als hätte schon jemand davon abgebissen. Die ersten Laubbäume haben gelbe Blattspitzen, dazwischen Tannen, Kiefern und Immergrün. Mit jedem Schritt glänzen die Farben dunkler und mein Körper wärmt sich in der Erinnerung an jede Bewegung: Die steilen Schritte, das gespannt blickende Hocken, das breitbeinige Stehen und Schwingen der Axt. Einmal im Jahr treffe ich den Onkel zum Holzarbeiten im gemeinsamen Waldgrundstück. Wir begehen den Weg, auf dem der Großvater mit dem Motorrad vom Hof ins Dorf gefahren ist (für uns bei der Steigung heute allzu präsent: die Vorstellung gespaltener Schädel). Den Weg, auf dem sein Bruder noch geritten ist, ohne Schuhe, ohne Sattel, zum Pferdebeschlagen ins Dorf; auf dem die Frauen ihnen mit Körben hinterhergeeilt sind, als es noch keine „Naturerlebnisse“ gab, nur das Leben und die Natur, das eine für eine scheinbare Ewigkeit mit der anderen verbunden. Einmal im Jahr, für zwei Tage, oder für drei, kehren der Onkel und ich also dazu zurück. Eine Brennnessel streift ein Stück Haut über meinem Knöchel, zwischen dem Ende des Sockens und dem Saum der Hose. Das erste Mal, als ich hier war, hat der gleiche Schmerz mich zum Weinen gebracht. Der Onkel hat mich hochgehoben, ein Stück weit getragen und ich habe gestaunt: „Von oben sieht alles viel kleiner aus“. Damals waren wir beide noch aus Fleisch. Überall in diesem Fragment meiner Erinnerung liegen warme Körper übereinander und das Haar des Onkels kitzelt meine Fingerspitzen, die sich darin festkrallen. Heute sind die Onkelhaare lang vergangen und meine Finger aus kaltem Metall. Wir sammeln Kastanien, und ich frage mich, mich, ob im Metall wohl Akkupunkturpunkte liegen, ob die Stacheln der gegen meinen Griff aufbegehrenden Nüsse Eindruck hinterlassen auf den mir angefertigten und angeschraubten Gliedern. “Siehst du schon die alte Linde? Und die kleine Bank davor. Und die Klappe im Boden?”, fragt mein Onkel, als wir uns auf den Weg machen, uns auf einer kleinen Lichtung zu Mittag auszuruhen. „Ja“, antworte ich, „und das Vogelhaus, das ich mit Mama gebaut und zweimal neu gestrichen habe“. Wir setzen uns auf die Bank am Rande der Lichtung, zünden eine Kerze an für meine Mutter und alle die, die in einer anderen Welt hier noch mit uns sitzen könnten. Bald löscht ein sanfter Wind das Feuer. Hinter der kleinen Tür im Boden sind noch immer Bier- und Limonadenflaschen gelagert; ich öffne sie (die Tür und zwei Flaschen) und biete dem Onkel eines der Getränke an. „Kaum zu glauben“, sagt der Onkel, „dass das alles den Krieg überdauert haben soll.“ Und ich: „Sonst hat ihn niemand überdauert.“ Wenn der Onkel und ich vom Krieg erzählen, dann immer in Pointen. Selten vom Frieren in den Zelten, vom Rattenessen, vom panischen Graben vor einem sich nähernden Panzer. Erst im Wald hören wir auf zu lachen. Denken daran, wie wir vor zehn Jahren hier waren – sitzend unter der alten Linde – die an der Krankheit verendete Mutter beweinend. Vor neun Jahren – lachend über die Nachbarin, deren Hühner und glücklich mit dem neu angeschafften Hund. Vor acht Jahren – besorgt über den Ausgang einer Wahl, einen neuen Krankheitsausbruch, glücklich über den Abschluss meiner Ausbildung und den beruflichen Erfolg des Onkels. Vor sechs Jahren – getrieben von dem merkwürdigen Gefühl, dass bald nichts mehr sein würde, wie es war. Es war damals, dass wir mit einem Taschenmesser ein Versprechen in die alte Linde geritzt haben: „Wir werden uns hier wiedersehen.“ Heute kann ich die Einkerbung im Baum nicht mehr ertasten, aber ich sehe unsere Worte hell in der Rinde. Heute haben wir die Pflichten hinter uns gebracht und die Schrecken in uns eingeschrieben; versuchen, sie mit einer Schutzschicht zu überziehen, sodass sie uns irgendwann einmal nicht mehr täglich von innen herauskratzen. Heute nehmen wir, statt zu frieren, Wechselduschen, um wach zu werden. Wir hören Schüsse im Traum und von Feuerwerken. Putzen Fenster, kochen Mahlzeiten, füllen Formulare aus, tragen saubere Kleidung und glänzende Ketten; so als hätten wir nicht noch vor Monaten die Metallketten unserer Kameraden abgetrennt, um die Toten benennen zu können. „Wir beide“, sagt der Onkel, „wir beide sind wie der Wald.“ Er fährt mit den Fingern über unsere Einkerbung im Baum, die er zwar fühlen, aber nicht mehr sehen kann. Vor zwei Wochen etwa hat mich eine Journalistin befragt. Darüber, wie es sich angefühlt hätte, mein junges Leben zu pfänden für die Kämpfe der älteren. Und ob ich mich schuldig fühle, mit meinem nur vom Glück verschonten Atem, der kaum verbrannten Stimme. Jetzt sehe ich ein Reh über das andere Ende der Lichtung laufen. Wahrscheinlich werden wir es einmal erlegen. Manchmal spüre ich meinen Herzschlag im Ohr und frage mich, mit wessen Erlaubnis er sich noch durch meinen Kopf und mich in die Lebendigkeit drängt. „Ich schiebe solche Gedanken beiseite“, erzähle ich der Journalistin. Dann sind wir beide still; irgendwo ein Flugzeug. In der Zeitung wird sie schreiben: „J. zuckt und verkrampft sich schon beim leisesten Geräusch eines Fliegers in der Ferne.“ Ich lese den Artikel und denke mir, was weiß diese Frau schon von leise oder laut.

Der Onkel räuspert sich; ich stimme ihm zu. Wir wie der Wald. Dem Onkel sind die Haare ergraut und vom Kopf gefallen, als hätte das Leben seinen Herbst über ihm ausgeschüttet. Mir sind die Finger abgebrochen wie Äste; ihm das Licht vor den Augen verwachsen. Der Wald bleibt immer gleich in seiner unverwüstlichen Veränderlichkeit. Neben hundertjährigen Bäumen stehen Pilzgruppen, die nie zwei Jahre hintereinander am gleichen Ort ihre Kappen aus der Erde drücken. Im Grundbuch ist seine Fläche verzeichnet, als könnte sein Grundriss ihn fassen. Durchs Vogelhaus der Mutter fressen sich heute Insekten. An den Vogelrufen erkennt der blinde Onkel, auf welcher Seite der Lichtung wir uns befinden. Ein paar Sträucher vergeben mir, wenn meine gemachten Hände ihnen die Beeren nehmen. Wir finden, der Wald nimmt uns auf wie zwei entstellte Gäste. Wir sitzen und hoffen, dass er nicht vergehen muss.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Susanne Sophie Schmalwieser, 21 Jahre