Leo stand nicht auf.
Sie lag bereits seit zwanzig Minuten auf dem kalten Linoleum, mit zugekniffenen Augen und fest verschlossenem Mund und gab keinen Ton von sich.
Frau Neubauer befand sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Von hilflosem Geschimpfe, dem Aussprechen entkräfteter Drohungen und nervösem Lachen bis hin zum Direktor mit ins Boot holen, hatte sie ihr gesamtes pädagogisches Repertoire an Repressalien ausgeschöpft.
Nun blickte sie verloren zu Dr. Schmitt, der ebenfalls ratlos neben ihr ans Pult gelehnt stand und sich die Schweißperlen von der Stirn abtupfte.
„Leonora“, bat er, ein Hauch von Verzweiflung in seiner Stimme.
„Willst du uns nicht wenigstens sagen, warum du da auf dem Boden liegst?“
Leo gab keine Antwort.
Die 9b, die zu Beginn des Spektakels noch laut getuschelt, gelacht und dem Versagen ihres Lehrkörpers mit unverhohlener Häme und gezückten Handykameras beigewohnt hatte, war mittlerweile ebenfalls verstummt.
Unruhig blickten sich die Schüler und Schülerinnen an. Die Luft knisterte vor gespannter Erwartung.
„Leonora, wir bitten dich. Lass den Quatsch und steh auf. Du weißt, dass ihr eigentlich gerade Klausur schreiben müsstet, oder?“, versuchte Dr. Schmitt erneut an die Vernunft seiner Schülerin zu appellieren, doch Leo zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern.
„Und wenn du nicht kooperierst, dann schreibt die Klasse die Klausur einfach ohne dich. Du wirst schon sehen, was das mit deiner Zeugnisnote macht und wie sich das auf deine Zukunft auswirkt.“
„Die habe ich sowieso nicht.“
Leo öffnete die Augen einen Spalt breit und schielte die beiden Lehrpersonen böse an.
„Jetzt ist aber Schluss mit lustig.“ Leos Einwand einfach übergehend schlug Frau Neubauer rigoros mit der flachen Hand aufs Pult. „Zum letzten Mal: Steh auf!“
„Das möchte ich lieber nicht.“
Leo schloss wieder die Augen und ruckelte sich ein bisschen bequemer auf dem Boden zurecht.
Einige der Schüler und Schülerinnen lachten, während andere genervt aufseufzten.
„Leo, jetzt lass den Scheiß!“, rief Maria genervt aus der vorletzten Reihe, während Erik sich ebenfalls langsam und theatral stöhnend zu Boden sinken ließ.
„Erik!“, rief Frau Neubauer, „Wenn du dich nicht sofort zurück auf deinen Platz setzt, dann hagelt es ganz schnell einen Verweis.“
„Leo kriegt doch auch keinen Verweis!“, beschwerte sich Erik lautstark, setzte sich jedoch widerstrebend zurück auf seinen Stuhl.
„Und ob sie einen bekommt.“ Dr. Schmitt hob mahnend den Zeigefinger. „Und wenn sie nicht sofort aufsteht, sogar einen verschärften!“
Leo zuckte wieder nur mit den Schultern.
„Und wenn schon“, nuschelte sie. „Das ist mir egal.“
„Ach das ist dir egal? In Ordnung.“ Dr. Schmitt nickte betont gleichmütig. „In Ordnung, dann werde ich jetzt gleich nach oben gehen und ihn unterschreiben. Mal sehen, ob dir das immer noch egal ist, wenn dir die weitreichenden Konsequenzen be…“
„Das ist mir scheißegal!“, fiel Leonora ihm lautstark ins Wort. „Sie wollen über weitreichende Konsequenzen reden? Na schön, dann reden wir jetzt über weitreichende Konsequenzen.“
Sie richtete ihren Oberkörper auf, stützte sich auf ihre Ellenbogen und sah ihren Rektor scharf an.
„Reden wir über die Konsequenzen, die die schmelzenden Eiskappen mit sich bringen, reden wir über weitreichende Naturkatastrophen. Reden wir doch mal darüber, dass immer mehr Wetterextreme auftreten. Was halten Sie davon?“
„Oh Gott, das ist doch jetzt überhaupt nicht das Thema hier.“ Dr. Schmitt fasste sich entnervt an die Stirn.
„Es ist nie das Thema. Das ist ja gerade das gottverdammte Problem!“, begehrte Leo wütend auf. „Aber jedes Jahr… jedes Jahr ist der heißeste Sommer nach Beginn der Wetteraufzeichnungen und wir holen uns Sunblocker 50, chillen dabei am See und blenden aus, dass uns das Ozon vermutlich bald killt.“
„Jetzt beruhige dich doch mal“, versuchte Frau Neubauer ebenfalls zu intervenieren, doch Leo wollte sich ganz und gar nicht beruhigen.
„Was denn!?“, rief sie zornig.
„Sie wollten doch über weitreichende Konsequenzen reden? Dann reden wir doch Klartext. Reden wir doch über Hitzewellen, Dürren, Brände, Fluten und Überschwemmungen. Reden wir über Todesopfer! Was? Zu krass? Okay dann reden wir zuerst über das Artensterben. Was ist mit den Bienen, dem Sumatra Orang-Utan, den Eisbären und den Fichten? Verdammte Fichten! Vielleicht sollte man das mal publik machen!“
Sie machte eine große, verächtliche Geste.
„Ändert eure Lebensweise, oder es gibt bald keine bescheuerten Weihnachtsbäume mehr.
Oder überhaupt Bäume. Wichtige Ökosysteme werden zerstört. Lebensräume verschwinden. Millionen, ach Milliarden von Menschen werden bald keine Heimat mehr haben und viele, viele Menschen werden sterben. Und wissen sie was? Alle tun so, als ob das ein Problem der Zukunft sei. Als sei es ein Problem, um das sich meine Generation irgendwann zu kümmern hat. Aber so ist es nicht!!!“ Leo brüllte jetzt ungehemmt.
„Es ist kein Problem, das in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren auftritt! Es passiert jetzt! Jetzt! Und es kotzt mich an, dass niemand uns junge Menschen ernst nimmt, wenn wir deswegen aufstehen und auf die Straße gehen. Alle lachen uns aus, oder verdrehen genervt die Augen. Sie sagen, wir schwänzen einfach nur die Schule und dass wir uns so unsere Zukunft versauen, aber… aber ich sehe keine Zukunft. Nicht für unseren Planeten, nicht für meine Generation, nicht für mich.“
Leos Stimme brach, eine einzelne Träne lief ihr die Wange herab.
„Und ich habe die Schnauze so voll“, schloss sie heiser. „Ich habe genug davon, auf der einen Seite von Erwachsenen belächelt zu werden und auf der anderen Seite die Verantwortung tragen zu müssen. Die Verantwortung, dass meine Generation die Welt retten muss. Ich will diese Verantwortung nicht mehr. Ich gebe sie Ihnen zurück und ich steh nicht mehr auf, bis Sie diese Verantwortung übernehmen.“
Dann schwieg sie wieder, doch ihr Schweigen war lauter als alles zuvor.
Einen langen Augenblick wagte niemand in dem Raum es zu durchbrechen.
Dann erhob sich Jonas aus der zweiten Reihe, schritt zu Leo und legte sich neben sie.
„Ich gebe die Verantwortung auch ab“, verkündete er feierlich. „Nehmen Sie sie wieder zurück.“
Ein weiterer Moment atemloser Stille, der dann von dem ohrenbetäubenden Geräusch rückender Stühle durchbrochen wurde.
In einem eisernen Akt des stummen Widerstandes ließen sich alle Schüler und Schülerinnen nach und nach zu Boden gleiten.
„Wir geben die Verantwortung ab. Nehmen Sie sie wieder zurück“, erscholl der einstimmige Ruf zwanzig junger Menschen. Alle vereint durch die kollektive Verzweiflung einer ganzen Generation.
„So, da haben Sie jetzt Ihre Konsequenzen.“ Leo blickte ihre fassungslosen Lehrkräfte herausfordernd an und ließ sich dann entschlossen zurücksinken.
„Wir stehen nicht mehr auf. Wir bleiben liegen. Sie und die anderen Erwachsenen, Sie haben jetzt die Verantwortung. Retten Sie unsere Zukunft.“