Frieden fällt nicht weit vom Stamm

Wettbewerbsbeitrag von Anna Breulmann, 19 Jahre

Du stürzst aus dem vierten Stock.
Ich sehe den weißen Leinenstoff der Gardine aus dem Fenster wehen.
Assoziationen an gehisste Friedensflaggen.
Nur ohne Frieden.
Denn dein Körper stürmt nach unten. Die Ärmel deines neuen Pullis verstecken deine Finger, ich kann mein Armband an deinem Handgelenk nicht erkennen.
Es schreit „Konsum, Konsum, Konsum, Konsum“ um dich herum.
Du fällst in einer Schreiwolke.
Zu viel Materialismus klebt an dir.
Es zieht dich zu Boden, beschleunigt den Fall, dabei fällst du doch jetzt schon so schnell.
„Morgens ist der Tau so nass“, flüsterstest du vor einer Woche nach einer Flasche Wein, „So nass wie unschuldig ein Tag beginnen kann, bis wir ihn wieder kaputtmachen.“
Wieder und wieder wie die wiederkehrenden Armbewegungen, die du jetzt machst.
In diesem Sturz scheint es, als würdest du nach etwas greifen.
Nach einem Wolkenwatt?
Nach einem Vogelflügel?
Nach einer Erinnerungslücke?
Nach mir?
Du bist barfuß.
Wahrscheinlich hat dich deine zu große Schuhauswahl mal wieder überfordert.
Die Woche über warst du erkältet.
„Wetterwechsel. - wir müssen unbedingt Kastanien sammeln“, murmeltest du im Fiebertraum.
Die Heizung ist aus. Ich schaltete sie ein, du wieder aus.
„Geiz, Geiz, Geiz“ murmeln die Bäume, die sich um dich herum ranken.
Du bist überfordert.
Du willst über allem stehen, forderst dich selbst und die Welt, willst verstehen, willst verändern, aber willst nicht einsehen, dass du nur ein Punkt in der Strichmasse bist.
Und deshalb fällst du.
Deshalb stürzt du ab.

Ich stehe vor dem Haus und starre auf das offene Fenster im vierten Stock.
Der Wind reißt an der weißen Leinengardine.
Ich betrete das Haus, durch die Stockwerke, bis zu dir.
Unsere Wohnungstür klemmt, es dauert eine Weile, bis ich sie aufbekomme.
Leise lasse ich meine Schuhe im Flur stehen und hänge meine Jacke unbedacht über die anderen.
Du liegst in unserem Bett.
Du schläfst.
Taschentuchpackungen liegen in einem Ein-Meter-Radius um dich herum.
Du zitterst leicht.
Ich schließe das Fenster.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Anna Breulmann, 19 Jahre