Das Ticken einer Uhr

Wettbewerbsbeitrag von Klara A.H.E. Trusch, 21 Jahre

Tick, tack. Tick, tack. Die Zeiger meiner Küchenuhr springen von Strich zu Strich, hinter ihnen verstreicht die Zeit.
Das Licht der Deckenlampe strahlt viel zu hell, während die Dunkelheit des frühen Morgens geduldig auf mich wartet. Die noch stockfinstere Nacht weiß, ich werde kommen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Mir ist kalt und ich bin müde. Die Uhr springt nun auf 5:20 Uhr. Wenn ich jetzt nicht gehe, verpasse ich die Bahn und komme zu spät zu meinem Frühdienst in der Notaufnahme.

Der Tag ist hell, das Licht in der Küche anzuschalten ist nicht mehr nötig. Meine Uhr zeigt 14:32 Uhr an. Erschöpft lasse ich mich auf meine Küchenbank plumpsen und stütze den Kopf in die Hände. Ich kann nicht mehr. Mein Körper fühlt sich an wie ein Eimer mit Loch. Alles was oben an Energie hineinkommt, fließt sofort wieder hinaus. Die Stunden, die zwischen zwei Diensten liegen, sind nicht genug, um mich von acht Stunden Rennen, Machen und Machen zu erholen.
Eigentlich tue ich nichts anderes mehr als essen, schlafen und ein Mindestmaß an Hausarbeit. Das Krankenhaus macht seinem Namen alle Ehre: es ist ein Haus voller kranker Menschen. Die Personen eingeschlossen, die für Gesundheit sorgen sollten. Stöhnend lasse ich mich seitlich auf die Küchenbank fallen, bleibe mit meiner Hand am Glas hängen. Ich sehe noch, wie es fällt. Ausdruckslos blicke ich auf die Scherben, die in ihrem roten Traubensaft-Teich baden.
Während mir die Tränen über die Wangen laufen, wird mir eines ganz klar. Ich muss etwas verändern. Denn wenn ich eins aus meiner Arbeit in der Klinik gelernt habe, dann dass ein heruntergefallenes Glas auf Linoleumboden normalerweise kein Grund zum Weinen ist.

Es vergehen zwei Wochen, bis ich einen Entschluss gefaßt habe und mich gegen das nagende schlechte Gewissen durchsetzen kann. Meine Wohnung ist mit Post-its ausgekleidet, als wäre ich ein Mastermind, kurz davor eine komplexe mathematische Gleichung zu lösen. Am Morgen eines freien Tages schlage ich die Bettdecke um und weiß, dass ich die Warnsignale nicht länger ignorieren kann. Meine Beine baumeln über den Rand des Bettes und entblößen die juckenden Hautausschläge, die mich neuerdings zieren. Ich weiß, was sie mir sagen wollen. Menschen, die stressbedingt krank werden, werden von ihrer Krankheit oder einem Schlaganfall nicht überfahren wie ein Highspeed-ICE. Häufig klopft vorher etwas an. Seltsame Bauschmerzen, ständige Energielosigkeit oder auch sehr beliebt: Hautausschläge. Seufzend springe ich auf die Füße. Ich brauche eine Pause. Da diese in meinem Arbeitsalltag nicht vorgesehen ist, muss ich sie mir verordnen lassen.
Eine Stunde später bin ich auf dem Weg zu meiner Hausärztin, um mich krankschreiben zu lassen.

Tick, tack, das gleichmäßige Ticken meiner Küchenuhr tröstet und frustriert mich zugleich. Unermüdlich macht sie ihre Arbeit, ohne müde zu werden und ohne sich zu beklagen. `Sie ist auch eine Uhr und kein Lebewesen mit zu vielen Emotionen´, hole ich mich aus meinen wirren Gedanken. Sie ist nur dafür da, mir zu sagen, wie spät es ist. Oder wie viel Zeit schon vergangen ist, hallt es in mir. Erneut spüre ich, wie Tränen in mir aufsteigen. Ich weiß, wie kurz das Leben sein kann. Jeden Tag landen Menschen bei uns, die für den Tag andere Pläne hatten, als ein Krankenhaus von innen zu betrachten. Wenn sie es noch betrachten können. Junge und alte Menschen, Kinder, für die sich plötzlich alles verändert. Das Leben ist so kurz. Ich liebe meinen Job, aber wenn er mich so sehr aussaugt, dass ich das Leben nicht mehr genießen kann, ist kein Gehalt der Welt genug. Entschlossen erhebe ich mich von meiner Küchenbank und laufe durch meine Wohnung. Langsam lese ich jedes einzelne Post-it. Immer wenn mir in den letzten Tagen etwas einfiel, was ich gerne mache, was mir gut tut und was ich gerne mal oder wieder machen will, habe ich es auf ein farbiges Quadrat geschrieben und die erstbeste Wand damit tapeziert. Ideen, wie ich meine ausgesaugten Akkus aufladen kann.
Während ich damit beginne, meine Wohnung zu putzen, telefoniere ich mit meiner Mutter und meinem Vater, versuche es bei ein paar Freundinnen. Ich kann das nicht allein. Heute Nachmittag hat Papa Zeit und kommt vorbei. Mein Herz wird etwas leichter. Nachdem ich das Bad geputzt habe, gönne ich mir einen Tee und kuschele mich mit einem Buch aufs Sofa. Eine wohlige Welle ankommender Entspannung schwappt von innen gegen meine Brustwand.
Nachdem ich das Buch wieder zuklappte, nippe ich an meinem Tee. Selbst wenn ich jetzt ein bisschen Zeit zum Ausruhen habe, wird es keine drei Dienste brauchen, bis ich wieder völlig ausgelaugt bin. Ich weiß, ich habe zwei Möglichkeiten. Entweder muss ich den Job an den Nagel hängen oder einen anderen Umgang damit finden. Die Perspektive wechseln. Etwas, was mein Vater mir beigebracht hat. „Glaube daran, dass es eine Lösung gibt“, sagt er dann immer.

Am Nachmittag klingelt es an meiner Wohnungstür. Überrascht stelle ich fest, dass es nicht nur mein Papa ist, sondern auch eine gute Freundin. Papa hat Kuchen dabei, dazu koche ich Kaffee. Zu dritt sitzen wir bis es Abend geworden ist in meiner Küche, spielen Brettspiele, unterhalten uns über das Leben, den Stress und wie ich meine Wohnung heller gestalten könnte. Nachdem ich hinter den beiden die Wohnungstür schließe, schleicht sich ein dankbares Lächeln auf meine Lippen. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch. Nach meiner Erkenntnis etwas verändern zu müssen, steigt nun eine neue leuchtend klar in mir auf.
Das Beste im Leben sind die kleinen Sachen. Liebe Menschen, Lachen, Gemeinschaft. Den Alltag mit Dingen zu füllen, die mir wirklich Spaß machen.
Ich habe vielleicht noch keine Lösung für meine andauernde Erschöpfung gefunden, aber ich bin nicht allein auf dieser Welt. Es gibt immer Menschen, die mich unterstützen.

Kurz vorm Schlafengehen räume ich noch die Teller vom Kuchenessen in die Spülmaschine. Mit erhobenem Blick sehe ich auf die schlichte Uhr mit dem lauten Uhrwerk. Wie sehe ich wohl für diese Uhr aus, die jeden Tag auf mich hinunterblickt, während ich sorgenvoll und in Zeitnot auf ihre Zeiger starre? Sie sieht mich nur gelassen an, für sie gibt es nur Jetzt. Keine Fragen, wie die Arbeit morgen wird, kein Ärgern über den Personalmangel in der letzten Schicht. In meiner Welt sind das alles berechtigte Sorgen und Emotionen. Aber vielleicht, denke ich, wenn ich die Welt mehr sehe wie sie, stresse ich mich weniger und entspanne mich mehr. Jetzt.

Obwohl ich nicht weiß, wie es morgen weitergeht, ob ich diesen Beruf noch länger mache oder nicht, sehe ich die Dinge nun anders. Die Lösung liegt nicht immer in einem Paukenschlag und einer großen Veränderung. Vielleicht liegt die Lösung zwischen zwei Sekunden, zwischen zwei kleinen, schwarzen Strichen.
Manchmal reicht das leise Ticken einer Uhr, um die eigene Sicht auf die Dinge zu verändern. Vielleicht sieht ein Problem aus einer anderen Perspektive schon viel kleiner aus. Und das verändert eine Welt. Deine.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.