Tag 65. Seit 65 Tagen sind wir nun im Bunker. Insgesamt sind wir knapp 40 Personen. Verloren haben wir bisher drei von ihnen, weshalb wir genaugenommen nur noch 37 sind. Ich habe mich daran gewöhnt, dass es dunkel ist und kalt und nass. Hier unten ist eigentlich immer Nacht. Wir wissen nicht, ob es in einem Bunker in unserer Nähe noch andere Menschen gibt. Meine Mutter hat eine Krankenstation eröffnet und ich bin irgendwie der Leiter des Rationsteams geworden. Ich habe den Posten eigentlich nicht einmal gewollt, aber meine Mutter ist der Ansicht, es würde mich ablenken und das tut es auch. Ich ordne den Familien ihre Nahrung und andere wichtige Dinge zu. Ab und zu ist es doch ganz schön anstrengend, wenn ich beinahe eine Stunde mit dem Vater einer vierköpfigen Familie diskutieren muss, bis er endlich einsieht, dass wir nun mal nicht genug haben, um es fair oder sättigend aufzuteilen. Gestern erst brach mir der Schweiß aus, als ich gesehen habe, dass wir nur noch ein paar Wasserkanister haben. Wir sind 37 Personen. Die Kanister reichen nicht mehr lange. Die Luft ist abgestanden und niemand hat mehr gute Laune. Aus einem zufälligen Anstoßen ist letztens erst eine Prügelei entstanden. Vorsichtig quetsche ich mich nun also durch die Menschen in Richtung Krankenstation. Ich muss meine Mutter fragen, was ich tun soll. Sie kennt sich viel besser damit aus, was Menschen brauchen. Wir können froh sein, dass wir sie haben, sonst wären wir mittlerweile schon deutlich weniger.
Am Abend habe ich eine Entscheidung getroffen und nehme all meinen Mut zusammen, um sie vor der Gruppe zu verkünden. Ab heute würde sich niemand mehr waschen können, weil wir das Wasser zum Trinken bräuchten. Außerdem kürze ich die Nahrungsrationen noch strenger und achte von nun an auf Alter und Zustand der Person. Der Großteil unserer Gruppe reagiert mit Entsetzen und Protestrufen auf meine Hinweise. Ich kenne das inzwischen und weiß, dass sie es nicht böse meinen, dass der Hunger und die Angst aus ihnen sprechen. Ich selbst habe schließlich auch Angst. Verdammt nochmal, ich habe wahnsinnigen Schiss vor der Zukunft. Haben wir eine Zukunft? Haben wir noch ein Zuhause, wenn wir hier wieder raus sind? Werden wir jemals hier rauskommen? Die langen dunklen Gänge verfolgen mich bis in meine Träume. Der Bunker ist wirklich weitläufig. Er erinnert an ein unterirdisches Riesenhaus. Trotzdem habe ich nie eine Minute für mich. Das Denken hat sich bei uns allen auf das Wesentliche beschränkt. Anfangs hat es einige gegeben, die Tagebuch führten, aber mittlerweile sind Kerzen oder gar ein Feuer nur noch in der Krankenstation und in den Gängen erlaubt. Hier unten gibt es keine Türen, die die Zimmer voneinander abtrennen. Wenn ich also auf meiner Isomatte liege und versuche zu schlafen, kann ich die Schreie aus der Krankenstation hören. Manche von uns werden langsam verrückt. Es ist schwer mit anzusehen, wie sich jemand, den man kannte, in etwas verwandelt, das alles andere als menschlich ist. Wenn ich es nicht schaffe einzuschlafen, gehe ich zur Krankenstation, um meiner Mutter zu helfen. Dann kann sie für einige Stunden schlafen bis wir wieder tauschen. Sobald ich dann die Augen schließe, sehe ich wieder die dunklen Gänge und ab und zu Gesichter, die ich einmal gekannt habe.
Die Dunkelheit verschluckt alles. Das Lachen der Kinder, den freundlichen Umgang miteinander und den Sinn des Lebens. Aus Dunkelheit entstehen Neid, Gier, Unfreundlichkeit, Ignoranz, Intoleranz und Angst. Finsternis hat sich in uns ausgebreitet und verschlingt uns Stück für Stück. Die Menschen hier unten beklauen sich gegenseitig, obwohl sie wissen, dass niemand viel hat. Es wird gestritten, selbst wenn die Streitenden derselben Meinung sind. Alles wirkt aussichtslos, umsonst. Wieso etwas essen, wenn früher oder später sowieso nichts mehr da ist? Wieso einander helfen, wenn wir sowieso alle sterben?
Gemeinsam mit ein paar Freiwilligen, sortiere ich die Vorräte neu. Mir ist klar, dass sie heimlich Essen in ihren Taschen verschwinden lassen, aber ich werde mich sicherlich nicht mit ihnen anlegen. Bei der nächsten Verteilung kriegen sie einfach weniger und ich schiebe es auf den Vorratsmangel. Allen ist klar, dass die Ressourcen von Tag zu Tag eingeschränkter werden, deshalb hinterfragt mittlerweile niemand mehr die Verteilung.
Tag 78. In den letzten Tagen haben wir acht Menschen verloren. Das hintere Zimmer ist nun die Totenkammer. Es ist mehr als nur provisorisch, aber wir können die Toten nicht bei Kindern und Familien liegen lassen.
Ich merke, wie es mir immer schlechter geht. Die Vorräte sind mittlerweile fast komplett aufgebraucht. Ein Viertel des Wasserkanisters ist noch übrig und das Essen ist leer. Die Kerzen sind beinahe runtergebrannt. Meine Mutter musste die Krankenstation schließen, weil es ihr selbst so schlecht geht, dass ihre Behandlungen nur noch eine zusätzliche Infektion mit sich bringen würden. Seitdem steigt die Sterberate weiter an. Meine Lippen sind trocken und meine Kehle brennt. Seit einigen Tagen habe ich nichts mehr gegessen. Ich liege auf meiner Isomatte und starre in die Dunkelheit. Ein Schrei ist zu hören, dann nur noch Stille. Meine Angst vor dem Einschlafen steigt von Stunde zu Stunde. Was ist, wenn ich nicht mehr aufwache? Der Gedanke, dass wir alle in diesem Bunker sterben werden und niemand uns je finden wird, macht mir fast noch mehr Angst. Ich brauche Wasser, aber ich kann mich kaum noch bewegen. Die Kinder sollen das Wasser trinken, habe ich gesagt. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte es getrunken. Wie egoistisch, dass ich Kinder verdursten lassen würde, nur um selbst nicht zu sterben. Mit letzter Kraft suche ich nach der Hand meiner Mutter und drücke sie. Sie reagiert nicht. Krampfhaft versuche ich mich davon abzulenken, dass meine Mutter tot sein könnte. Ich konzentriere mich auf die schwere Aufgabe, meine Augen offen zu halten. Bloß nicht einschlafen.
Plötzlich höre ich ein Knacken und Knarren. Metall, dass beiseite gezogen wird. Die Alarmglocken in meinem Kopf schrillen und ich kann quasi spüren, wie Adrenalin durch meinen Körper schießt. Jemand hier unten muss eine Brechstange oder etwas ähnliches gefunden haben und wird uns alle umbringen. Wieder das Knarren. Diesmal höre ich eine Stimme, die sich sehr weit weg anhört. Als käme sie aus einer anderen Welt. Sind meine Augen noch offen? Ja, ich lebe noch. Das Knarren hört nicht auf. Ich versuche mich aufzusetzen und anschließend krieche ich über den Boden in den Gang. Was ich da sehe, kann ich nicht glauben.
Ich sehe Licht. Kein Flackern einer Kerze oder ein Feuer, nein. Ich sehe Sonnenlicht. Frische Luft füllt den Gang und ich halte mein Gesicht in die Sonnenstrahlen, die in den Bunker fallen. Ein Schatten schiebt sich über die Sonne. Vor mir sehe ich eine Truppe, die mich anlächelt. Es gibt noch mehr Menschen, die das Schicksal überdauert haben. Es gibt noch eine Chance. Es gibt Hoffnung. „Na? Bereit für einen Neuanfang?“