„1. Was wollen Sie vom Leben?“ Perplex starrte ich auf den ersten Satz des Fragebogens, während die anderen Kursteilnehmer um mich herum eifrig mit dem Schreiben begannen. Stifte kratzten über das Papier, die Kursleiterin erklärte, dass wir 10 Minuten zum Beantworten hätten, ehe der nächste Programmpunkt startete. Es seien nur ein paar Einstiegsfragen, nichts, was uns lange aufhalten sollte. Sie hatte ja keine Ahnung. Bereits am ersten Punkt scheiterte ich. Also ging ich zum zweiten:
„2. Was halten Sie vom Leben?“ „Ich check´s nicht.“ Je älter ich wurde, desto unverständlicher erschien es mir. Es war verblüffend und irritierend gleichermaßen, wundersam schön und grausam schrecklich. Ein Widerspruch in sich, aber irgendwie funktionierte es. Im Raum herrschten gefühlt 30 °C. Seit meinem Schulabschluss vor knapp einem Jahr hatte ich nicht mehr in einem Klassenzimmer gesessen. Dieser Sommerkurs war auf dem Mist meiner Eltern gewachsen, sie dachten, er helfe mir, mit meiner Situation umgehen zu lernen. Meine Eltern kannten mich wirklich schlecht. Das Schlagen der Uhr katapultierte mich in die Gegenwart zurück. Nur noch 5 Minuten und noch drei Fragen. Großartig. Sogar bei einem Einstiegstest wie diesem versagte ich.
„3. Beschreiben Sie sich in drei Worten!“ „Gewissenhaft, bemüht… Verantwortungslos, kindisch, dumm.“ Tagtäglich erlebte ich so viele Menschen, die so voller Leben, voller Energie und Esprit steckten und im Vergleich dazu kam ich mir oftmals klein und schwach vor. Und das nicht aus einem unbegründeten Minderwertigkeitskomplex heraus, sondern weil es stimmte. Gewiss gab es Menschen, die noch schlimmer dran waren als ich, aber zu den Starken würde ich niemals zählen. Deshalb benutzte ich diese Attribute. Ich wollte endlich mal ehrlich sein. Schluss mit dem Theater.
„4. Was treibt Sie an?“ Da musste ich nicht lange überlegen. „Ich will nicht sterben.“ Am letzten Weihnachtsabend, in meinem Bett liegend, hatte ich darüber nachgedacht, wie es wäre am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen. Wie es wäre, wenn unter allem ein Schlussstrich stünde. Kurz hatte es beruhigend gewirkt, doch dann waren die Erinnerungen zurückgekehrt. An jenen Tag Ende Oktober, als ich bei meinem zweiten Krankenhausaufenthalt alleine mit diesen schrecklichen Schmerzen im Wartezimmer der Ambulanz saß, auf die Testergebnisse wartete und begriff: Ich will nicht sterben. Ich habe doch noch nichts von alledem getan, was ich tun wollte. Ein paar Tage zuvor, als ich von einem Arzt zum nächsten gerannt war, machte ich einen Zwischenstopp in der Kirche. Dort gab es einen Platz, wo man auf kleine Zettel Fürbitten schreiben konnte. Auf einem stand: „Danke, dass ich am Leben sein darf.“ Dieser Satz gewann plötzlich eine völlig neue Bedeutung für mich.
„5. Was wünschen Sie sich?“ Die letzte Frage ähnelte der ersten, deshalb wandte ich mich zuvor der ersten zu. Die meisten um mich herum waren bereits fertig, legten die Stifte weg und quatschten. Anscheinend fiel es ihnen leichter als mir, pseudopsychologische Fragen zu beantworten. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich.
„1. Was wollen Sie vom Leben?“ Zuerst einmal wollte ich, dass die Schmerzen aufhörten, obwohl das sehr unrealistisch war. Außerdem wollte ich keine Angst mehr haben, vor den Schmerzen und den Tabletten und davor, nicht zu wissen, was ich dagegen tun sollte. Aber was ich am allermeisten wollte? Ich wollte nicht hoffnungslos sein. Nie wieder. Nicht so wie damals. Wo mir selbst die Tränen sinnlos erschienen waren, im Angesicht dessen, was ich gerade erlebt hatte, sogar mit der Aussicht darauf, dass es viel schlimmer sein konnte. Die Hoffnungslosigkeit war das schlimmste. Wenn man nicht einmal mehr Wut verspürte. Es war beschissen. Wenn es nicht einmal mehr Spaß machte, das zu sagen. War es hoffnungslos? Nein. „Ich will leben.“ Es würde der Tag kommen, an dem ich ohne Schmerzen aufwachte. Aber wenn ich nur auf diesen Tag wartete, mich zu jeder anderen Zeit bemitleidete, würde es tatsächlich so eintreffen, wie ich im Wartezimmer des Krankenhauses befürchtet hatte: Dass es vorbei war, und dass ich nichts getan hatte. Wenn ich nicht einfach lebte, lebte und tat, mit den Schmerzen, würde ich gar nichts mehr tun können. Deshalb tat ich. Jeden Tag.
„5. Was wünschen Sie sich?“ Nun, ich konnte eine lange Liste verfassen über Dinge, die ich mir zu irgendeinem Zeitpunkt des vergangenen Jahres gewünscht hatte. Dass die Ärzte eine konkrete Diagnose stellten, eine Ursache für die Schmerzen in meinem Körper fanden. Dass mein Leben wieder in gelenkte Bahnen zurückkehrte, ich meine Ausbildung und mein Privatleben wieder in den Griff bekam, da beiderlei unter meinem schlechten Zustand litten. Im Grunde hatte ich mir dasselbe gewünscht wie jeder andere auch. Gesundheit, Sicherheit, Zufriedenheit. Ersteres existierte nicht mehr. Meine Lage war nicht lebensbedrohlich, aber ermüdend. Spätestens seit einer der Ärzte mich damit konfrontiert hatte, dass die Schmerzanfälle niemals ganz verschwinden würden. Sie wurden höchstens schwächer. Damals war ich an dem Punkt angelangt, wo ich resignierte. Ich kämpfte nicht mehr dagegen an, ich akzeptierte es – und begann jeden schmerzfreien Moment zu schätzen.
Die Kursteilnehmer neben mir unterhielten sich unangenehm laut. „Das mit dem Krieg ist schrecklich. Dazu die Pandemie, die Energiekosten, die Weltwirtschaft – das wird alles noch schlimmer.“ „Und du darfst nicht vergessen, wie hoch die Anforderungen heutzutage sind. Klimakrise, Altenvorsorge, Vermögensverteilung – ich weiß gar nicht mehr, worauf ich noch alles achten soll.“ „Dagegen sind unsere Probleme echt unbedeutend.“ „Entschuldigt bitte, ich will ja nichts sagen…“ War ich verrückt geworden? Warum stritt ich mit zwei Fremden? „Aber die eigenen Probleme sind definitiv nicht egal. Es ist nur natürlich, dass jeder mal schlechte Zeiten hat, und ich muss das auch zugeben dürfen. Außerdem hilft es überhaupt nicht, wenn ich mich nur mit dem Leid anderer konfrontiere. Denen nicht und mir nicht!“ Meine Stimme klang unbeabsichtigt schrill. „Letzten Endes kommt es darauf an, ob man etwas dagegen tut! Im Großen und im Kleinen!“
Die beiden starrten mich an, als hätte ich den Verstand verloren, aber das kümmerte mich nicht. Wie ich mich wieder meinem Blatt Papier zuwandte, grinste ich. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge über mich selbst. Weil ich endlich klarkam. Rein objektiv hatte sich nichts an meiner Situation verändert. Weder die Schmerzen noch meine Ängste waren verschwunden. Sie gehörten zu meinem Leben und ich hieß sie mit offenen Armen willkommen. Sie konnten mich nicht aufhalten. Im Gegenteil, sie trieben mich an. Das war der große Unterschied. „Kommt bitte zu einem Ende“, sagte die Kursleiterin. Lachend beantwortete ich die letzte Frage. Vielleicht war dieser Kurs doch keine so blöde Idee gewesen. „Ich wünsch mir Blumen für mein Leben! Ihre Blüten sind nur von kurzer Dauer, dafür strahlen sie umso mehr.“