Die Frage nach der Schuld

Wettbewerbsbeitrag von Ronja Held, 23 Jahre

„Gib mir die Schaufel zurück, du Blödmann!“ Das Geschrei des Mädchens hallte in meinen Ohren wie ein Echo, packte mich und ließ mich zusammenzucken. Ich blieb abrupt stehen, beobachtete mit Argusaugen, was geschah.
„Du hast mir zuerst das Auto weggenommen! Also Pech gehabt. Selbst schuld“, konterte der kleine Junge auf der anderen Seite des Grundstückes. Ich entschied mich stehenzubleiben, die beiden Kinder weiter zu beobachten. Keine Ahnung, was mich festhielt, doch ich war wie betäubt. Wusste nicht mehr, wie man einen Schritt nach dem anderen tätigte. Fokussierte mich nur noch auf das Jetzt.
„Ihr zwei, sofort herkommen“, mischte sich eine Frau Mitte dreißig ein und unterbrach das dröhnende, eindringliche Gebrüll.
„Aber Mama, Jonathan hat angefangen! Es ist seine Schuld. Ich habe nichts gemacht“, das Mädchen begann theatralisch zu heulen. Jonathan wirkte still und in sich gekehrt. Meiner Meinung nach schien er allmählich darüber nachzudenken, was er angestellt haben könnte. Dass er womöglich der Auslöser für das Leid seiner Schwester gewesen sein könnte.
Ich zog meine Jacke dichter und dichter an mich heran, legte sie wie eine Schutzweste um meine Haut und hoffte darauf, dass sie mich durch den aufkommenden Winter begleiten würde. Ein frischer Wind kam auf und sorgte dafür, dass meine Haare wie ein wilder Strudel um mich herum schwebten. Und doch … blieb ich stehen. Lief nicht weiter, wusste immer noch nicht, wie das Laufen ging.
Wie begann ich zu laufen, wenn ich doch spürte, dass ich bloß auf der Stelle trat?
„Es ist völlig egal, was Jonathan getan hat oder nicht“, begann die Mutter den Streit zu schlichten. „Vielleicht hast du etwas getan, was ihn verärgert hat. Ihn gekränkt, ohne es zu merken?“ Das Mädchen schniefte nur noch leise, kaum merkbar. Sie hatte sich gefangen und auch sie dachte nun darüber nach, wer diesen Streit begonnen hatte. Wer war schuld an dieser Situation? Konnte einer der beiden überhaupt noch sagen, wer, wann, wie, womit genau angefangen hatte, diese Eskalation zu beginnen? Innerlich tippte ich auf: Nein.
Meine Füße? Hatten immer noch nicht verstanden, wie das mit dem Laufen ging. Ich blieb also weiter stehen. Minute für Minute verstrichen, kaum merklich. Selbst nachdem Jonathan und seine Schwester sich bereits beieinander entschuldigt hatten, stand ich weiterhin an Ort und Stelle. Regungslos.

Regen. Ich wusste nicht, wie lange ich mittlerweile vor diesem Einfamilienhaus stand, ohne es zu merken. Die aufkommenden Wolken hatten sich verdichtet und die Regentropfen platschten auf mich nieder, flossen an mir hinab, um sich auf dem Boden wieder zu einer Einheit zusammenzuschließen. Du musst jetzt gehen. Lauf! Gab ich mir selbst den Befehl. Nur wie? Wie sollte ich laufen, wie sollte ich weitergehen, wenn ich verlernte in die Zukunft zu blicken? Wie sah es um die nächsten zwei Straßenecken aus? Ich wusste es nicht. Irgendwie wollte ich auch nicht wissen, was dort auf mich wartete, denn ich befürchtete, dass es nicht besser werden würde. Mein Handy vibrierte, riss mich aus meinem benebelten Gedankenstrudel. Ich las die Überflutung, die Welle an neuen Ereignissen, die über mich schwappte und drohte, mich mit all ihrer Kraft mitzureißen. Gnadenlos.
Sie haben drei neue Benachrichtigungen in Abwesenheit.
Achtung: Warnung vor Starkregen und Überschwemmung!
Eilmeldung: Krieg wird noch Monate andauern!
Beschluss: Maskenpflicht wird ab nächstem Frühjahr wieder eingeführt, auch Ausgangssperren könnten laut Bundestag eintreten!
Mein Handy wegschmeißen? Ja, das war definitiv mein erster Gedanke! Und doch forderte ich mich auf, durchzuhalten. Das Positive in dem Negativen zu sehen, da man mir das Tag für Tag eintrichterte. Deshalb war ich still geworden. Hatte mich angepasst, um in der Gesellschaft nicht aufzufallen. Hatte nicht mehr über meine Sorgen und Ängste gesprochen.
Ich bin schwach …
Und vor allem hatte ich aufgegeben nach einem Schuldigen zu suchen, war stehen geblieben. Denn wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wenn wir alle ehrlich zu uns selbst wären, würde uns klar werden, dass es nichts brachte. Es brachte nichts, weil es uns aufhielt, zu nichts Konkretem führte. Die Frage der Schuld war nur ein kleiner Teil einer großen Sache, an der wir uns versuchten, tagtäglich festzuhalten, um der Realität nicht ins Auge blicken zu müssen.
„Wir wollen verhandeln!“ ABER „Verhandeln können wir nur, wenn wir einen Schuldigen gefunden haben!“
„Wir wollen unsere Freiheit zurück!“ ABER „Wir müssen wissen, wer daran schuld ist, dass wir keine Freiheiten mehr haben!“
„Wir wollen die Welt vor dem Sterben retten, denn wir sterben mit ihr!“ ABER „Das können wir erst, wenn wir einen Schuldigen gefunden haben!“
Diese verdammte Realität lautete: Angst. Und diese Angst hielt mich davon ab weiterzulaufen, während sich der Rest der Welt kontinuierlich und stillschweigend weiterbewegte. Obwohl mir bewusst war, dass auch das Stehen bleiben nicht half. Ich musste etwas tun, um weiterzukommen.
Nur was kann ich tun, wenn ich weitergehen soll, aber verfluchte Angst davor habe?
Stehenzubleiben auch nichts half, weil ich Angst davor hatte und das Nachdenken über die Zukunft, das … machte mir auch Angst.
Mir war klar, ich war machtlos, wenn es um die Entscheidungen anderer ging. Den Streit der Kinder hätte ich nicht klären können, sie hatten selbst eine Lösung gefunden, ohne der Frage der Schuld nachzugehen. Vielleicht sollte ich das auch tun? Weitergehen und für mich die Entscheidung treffen, auch wenn sie mir Angst machte?

Sonne. Der Himmel klärte sich auf, vereinzelnd kitzelten Sonnenstrahlen meine Haut. Blinzelnd richtete ich mein Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort erblickte ich einen jungen Mann. Mein Alter. Er stand – wie ich – auf einem Fleck, bewegte sich kein Stück. Als er mich sah, lächelte er schief. Irgendwie wusste ich, dass wir uns ähnlich waren. Ich fühlte mich auf eine eigenartige Art und Weise mit ihm verbunden, ohne nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Ohne Worte schien es so viel leichter.
Eine Zeit sahen wir uns forschend an. Zu meiner Verwunderung machte der Unbekannte, der mir dennoch so vertraut schien, einen Schritt nach vorne. Ich hatte Lust, es ihm gleichzutun. Er grinste, als er bemerkte, dass ich ihn spiegelte. Ich konzentrierte mich vorerst auf meine Füße, endlich wieder zu laufen. Und? Es funktionierte. Ich lief, machte Schritt für Schritt. Ich musste mich erst wieder daran gewöhnen, wie das nochmal funktionierte. Aber, die Hauptsache war wohl, dass ich weiterging. Dass ich weiterging, weil ich es für mich selbst so entschieden hatte. Auch wenn ich nicht wusste, was hinter den nächsten Straßenecken auf uns wartete.
Wir sind stark!

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.