Okay

Wettbewerbsbeitrag von Sven Mülot, 20 Jahre

Anne sieht immer gut aus. Manchmal stelle ich mir vor, wie sie tanzt in einem Kleid mit Blumen, in ihrem Zimmer alleine, sie grinst, nein, sie strahlt. Ich möchte in ihrem Lachen tauchen gehen. Ich glaube, sie raucht viel, wenn sie allein ist. Ich liebe ihre Art zu reden und wie sie geht. So selbstbestimmt, als wäre alles richtig, was sie tut. Ich weiß nicht, ob sie alles richtig macht. Ich weiß nur, dass ich ihr überall hin folgen würde. Anne wohnt in der Nähe. Mama nicht mehr.
Anne hört sich müde an. Als hätte sie genug von etwas. Je mehr sie redet, desto mehr hat sie genug von allem hier. Ich beobachte die Leute um mich herum, suche nach irgendwas, ohne zu wissen, was es ist. Vielleicht ist eine Suche nach etwas, das man nicht kennt, eine Flucht. Und vielleicht ist eine grundlose Flucht einfach Unterwegssein. Ich bin oft unterwegs. Ich möchte nach Hause.
Ich weiß nicht, wie es Anne geht. Alles ist stehengeblieben. Mir gefällt die Stadt nicht. Ich fühle mich unwohl. Mir fehlt ein richtiges Bett und ein Tisch, der kein Stehtisch ist. Alles ist unbequem, als läge ich in einem Bett und müsste mich hundertmal drehen und das Kissen hundertmal verschieben, um endlich schlafen zu können.
Anne ist weg. Ich will zurück. Dahin zurück, wo alles gut war, alles okay war.
Mein Altbau hat hohe Decken und wenn ich sie betrachte, denke ich kurz zu begreifen, dass die Erde sich in einem unendlichen großen Raum um sich selbst dreht und dann fühle ich mich wie ein einzelner Punkt auf einem weißen Blatt Papier.

Ich lebe vor mich hin wie ein Stein, jeder geht daran vorbei und entweder wird er nicht gesehen, oder er wird aufgehoben und dann weggeworfen von einem Kind in einen Teich. Und dann versinkt er und tut nichts. Es klingelt. Ich mache auf, weil ich darauf hoffe, in einen Teich geworfen zu werden. Samy nimmt mich mit, feiern, irgendwohin wo alle sind.
Mama, was denkst du? Wo bist du gerade und was hältst du jetzt von mir? Wie geht es dir, wenn du mich so siehst? Kannst du mich überhaupt sehen? Brauche ich Hilfe oder komme ich klar, du weißt es besser als ich. Ich zerdrücke die Fragen in meinem Kopfkissen.
Mama, wann hört das alles auf? Ich will nach Hause und kann es nicht. Ich grabe mit meinen Schuhsohlen im Kies der Parkwege und male, stehe auf und verwische alles, bevor ich gehe. Ich will nichts hinterlassen. Im Briefkasten liegt eine Karte. Ich schaue fünf Mal auf die Adresse, um jedes Mal festzustellen, dass sie wirklich für mich ist. Ich lese. Tut mir so leid. Konnte nicht anders. Du weißt. Zurück? Anne. Fetzen die sich in meinem Kopf abspeichern wie der Geruch von Mamas Parfum. Ich lege die Karte auf den Boden und stehe den ganzen Tag davor. Ich kann ihr nicht antworten, es steht kein Absender drauf. Jetzt muss ich warten. So unendlich lange warten. Ich schaue sie mir immer noch so oft an, auf der Vorderseite steht Happy Birthday und die bunten Kringel sollen Konfetti sein.

„Ich hab einfach irgendeine genommen, hatte nicht so viel Zeit“, sagt Anne. Sie ist da. Direkt vor mir. Sie steht da mit ihrem unschuldigen Lächeln, als wäre zwei Monate lang nichts gewesen. Als hätte sie nie etwas anderes getan, als da zu stehen. „Hab mich schon gewundert“, sage ich und schniefe, „ich hab ja gar nicht Geburtstag.“ Ich lächle, eine Träne rollt über meine Wange. Anne nimmt mich in den Arm, ich schließe meine Augen. Die letzten Wochen habe ich alles nach oben gepresst, meinen Kopf zugestopft mit Krams, nur eingeatmet, nicht aus. Jetzt bin ich in Annes Armen, atme aus, lasse alles und mich auf den Boden fallen. Ich falle. Ich falle tief und es hört nicht auf, Mama, aber Anne ist jetzt da, ich mach dir keine Sorgen mehr. Ich glaube, ich weine lange, Anne lässt mich auf die Matratze sinken, „ich mache uns was zu essen, okay?“, ich liege nur da. Mir ist nichts egal, aber es fühlt sich so an, als wäre es das. Irgendwann kommt Anne wieder, sie setzt sich zu mir auf den Boden, zwei Teller Nudeln dampfen die Scheiben zu. Wir essen und unterhalten uns über die letzten Monate, ich rede wenig und Anne viel, meine Wangen trocknen und die Nudeln schmecken so, als würde ich mich mit jedem Bissen zurückbekommen. Anne steht am Fenster, ich spüle ab und schaue ihr beim Stehen zu, beim Atmen, Denken. Fühlen. Ich glaube, Anne brauchte Zeit für sich, um mit der ganzen Sache mit dir klarzukommen, Mama. Ich kann das alleine nicht. Es tut zu weh. Anne ist wieder da, vielleicht kommen die guten Dinge zurück, wenn sie erst gegangen sind.
Ich glaube Anne weiß, wie es mir geht. Sie fragt nichts, sie sagt nichts, es reicht aus, dass sie hier ist. Wir gehen raus. Sie nimmt mich mit zum Einkaufen, ich zähle Butter und Cent Münzen, trage Jutebeutel und sie schließt auf. Wir sitzen. Auf der Matratze auf dem Boden und sie sagt, dass wir jetzt zusammen bleiben und alles besser wird. Früher ist sie so gelaufen, als wäre alles richtig, was sie tut. Jetzt spricht sie so, als wäre alles richtig, was sie sagt.

„Ich wusste nicht wohin, alles tut so weh, Anne, alles tut so scheiße weh.“ Ich rede nicht weiter, ich weine und frage mich, ob Krokodile wirklich so große Tränen haben, wie alle immer sagen. Wie lange muss ich noch fallen, Mama? Wie lange fallen, damit ich leer bin, ich ausgefallen bin, nichts mehr da ist, alles in mir so pur wie am ersten Tag? „Wie lange?“, ich glaube ich schreie Anne an, und ich glaube sie findet das okay. Ich sehe verheult aus im Spiegel, die Zahnbürste kreist immer auf derselben Stelle, meine Augen brennen und tragen Ringe in Hautblau unter dem gelben Licht. Anne bleibt, ich lehne mich an sie. Es tut gut zu verstehen, dass ich nicht alleine bin.

„Du?“, sagt Anne. „Ja?“ „Ich habe etwas sehr Wichtiges gelernt, als ich weg war.“ „Was denn?“ „Es ist okay“, sagt sie dann. Ich weiß nicht, was sie meint. „Es ist okay, dass du Mamas Tod nicht akzeptieren kannst, und es ist okay, dass du dich scheiße fühlst. Es ist okay, dass du nicht zurechtzukommst mit allem hier, dass du weinst, es ist okay, dass du fällst.“ Wir schweigen kurz. „Es ist okay, nicht okay zu sein.“
Ich stehe auf und atme tief, ein Seufzer, ein Durchatmen nach langem Weinen, das sich anfühlt wie Fallen nach oben. „Komm, wir tanzen“, sagt Anne. Ich gucke so, wie man guckt, wenn man mit allem gerechnet hat, nur damit nicht. Anne verschwindet hinter der Wohnzimmertür, ruft „mach dich schick“, ich gehe in mein Zimmer und suche brauchbare Klamotten raus. Ich trage Jeans und ein Hemd, Anne kommt zurück und hat ein Sommerkleid an. Ich gucke so, wie man guckt, wenn man überwältigt ist. Sie nimmt ihr Handy und macht ein Lied an, wir haben keine Box. Dann tanzen wir. Jede Bewegung ist wie eine Aussicht auf Gutes, jeder Schritt das Gefühl von festem Stand, jeder Blick wie ein Zuspruch. Mach weiter, immer weiter. Hör nicht auf. Mama, wenn du uns jetzt siehst, sag mir, bist du glücklich? Ich denke so oft daran, ob du wohl glücklich bist, und ich glaube, jetzt könntest du es sein. Ich bin es. Ein bisschen mehr. Weil ich jetzt daran glaube, dass es okay ist, nicht okay zu sein.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.