„Nein, beim besten Willen nicht. Jedes Mal bringst du neue Ausreden mit und ich sehe es langsam nicht mehr ein, diese einfach so hinzunehmen!“ sagte die Mutter verärgert und blickte auf die schlechte Note ihrer Tochter. Das Stück Papier lag vor ihr auf dem Tisch und verärgerte sie ein weiteres Mal.
„Aber wenn ich es dir doch sage... Das waren komplett andere Themen und der Lehrer hat garantiert etwas gegen mich“, verteidigte Mia sich. Sie wirkte ungerührt, leicht verträumt sogar. Sie hatte vor ihrer Mutter Platz genommen und faltete nun ihre Hände zusammen, legte diese dann anschließend auf ihren Schoß, während sie es nicht wagte, ihrer Mutter in die Augen zu sehen.
„Hör auf damit, er hat nichts gegen dich! Erst recht würde er dir keine schlechtere Note geben, selbst wenn es so wäre. Gib es zu, du warst schon wieder zu faul zum Lernen!“ Langsam schüttelte Mia den Kopf. „Nein...“ entwich es ihren Lippen. „Ich habe gelernt, wirklich.“
Nun kam auch ihr Bruder in die Küche geschlichen und blickte über die Schulter seiner Mutter. Fast automatisch bildete sich in seinem Gesicht ein Grinsen, als er die weitere schlechte Note seiner Schwester sah. Ein „schon wieder so schlecht abgeschnitten?“ konnte er sich nicht verkneifen und blickte sie triumphierend an. Mia biss die Zähne zusammen und gab sich Mühe, nicht sofort aufzuspringen und ihrem Bruder ins Gesicht zu schreien. Sie hoffte, zumindest ihre Mutter würde sie kurz vor ihrem Bruder in Schutz nehmen, doch diese schüttelte bloß langsam den Kopf, noch immer aufs Papier starrend. „Hättest du gelernt, würden wir nun nicht schon wieder hier sitzen und über den Mist diskutieren, oder?!“, fuhr sie verärgert fort, ignorierend, dass ihr Sohn hinter ihr stand. Mia sah zu Boden, ihre Hände nun zu Fäusten geballt. Nur zu gut durchdachte sie nun ihre nächste Antwort, spielte die möglichen nächsten Minuten in Lichtgeschwindigkeit in ihrem Kopf ab. Doch ein plötzliches „Ich bin wieder da!“ riss sie aus ihren nur allzu gut strukturierten Gedanken und ließ sie horchen. Ihr Vater war wieder da. Er würde in wenigen Sekunden von ihrer weiteren unbefriedigenden Zensur erfahren und sie vielleicht sogar wieder anpflaumen.
„Komm mal bitte direkt in die Küche, Liebling!“, begrüßte die Mutter ihren Gatten rufend. Jeder nahm die immer näher kommenden Schritte wahr, bis dann der Vater schlussendlich vor den anderen in der Küche stand. „Hallo Papa!“ begrüßte sein Sohn ihn noch immer munter, bekam aber keine Antwort. Sofort zog die Mutter alle Aufmerksamkeit auf sich, sobald sie den Zettel hochhob und dem Mann reichte. Dieser warf nur einen kurzen Blick darauf und seine Miene verdüsterte sich augenblicklich. „Schon wieder also.“ murmelte er monoton. Es wurde still, Mia traute sich, ihren Kopf ein wenig zu heben und erblickte vor sich ihren verärgerten Vater, welcher noch immer in Jacke und Stiefeln vor ihr stand.
„Ich kann das nicht nachvollziehen. Du bist wahrlich eine Enttäuschung. Wieso bist du so unmotiviert zum Lernen? Weshalb strengst du dich nicht so an, wie es dein Bruder auch tut? Du kennst seine Noten, sie sind perfekt. Man könnte meinen, du stammst nicht aus dieser Familie!“, erhob er seinen Ton und knallte das Papier auf den Tisch, was alle daran sitzenden zusammenzucken ließ. „Ich habe schon meine Gründe, weshalb ich nicht so gut abschneide.“ gab Mia wider. „Ach ja? Diese wären bitte welche?“ verlangten die Eltern beide zu wissen und verschränkten ihre Arme fast zeitgleich. Dieser Druck, welcher auf das Mädchen ausgeübt wurde, nahm von Sekunde zu Sekunde zu und sie hatte keine Hemmungen mehr, die Wahrheit zu sagen.
„Was wäre denn, wenn meine schlechten Noten nicht davon kommen, dass ich zu faul bin? Was wäre denn, wenn ich euch sagen würde, ich schreibe extra diese schlechten Zensuren und beteilige mich kaum noch? Was würdet ihr tun, wenn ich euch erzähle, dass ich euch damit etwas signalisieren wollte, anstatt euch so sehr zu verärgern und ihr die Anzeichen einfach ignoriert habt?!“, platzte es aus der Schülerin heraus. Sofort registrierte sie die verwunderten, schockierten und fragenden Blicke ihrer Eltern, auch ihr Bruder sah sie verwirrt an.
„Wieso solltest du das bitte tun, Mia? Sag, schämst du dich denn nicht? Du schreibst absichtlich schlechte Noten, wozu? Willst du den Familiennamen in den Dreck ziehen oder einfach nur rebellieren?!“
Mias Blick wanderte zu ihrem Bruder. „Wenn, dann zweiteres. Ihr merkt es nicht, aber ständig vergleicht ihr mich mit ihm. Nie war eine meiner Leistungen gut genug in euren Augen, ständig stand er über mir. Ich hoffte, ihr würdet merken, wenn ich auf einmal nur noch schlechte Zensuren nach Hause bringe, ihr würdet merken, etwas stimme nicht, aber ihr wart blind. Ihr mögt viel im Kopf haben, aber eure soziale Ader ist taub geworden, wenn nicht sogar abgestorben.“
Entsetzter wurden die Blicke, die Unterkiefer klappten nach unten und die Stille erfüllte den Raum. Ein knapper Blickwechsel der Eltern folgte, dann schrie die laute Stimme des Vaters: „Ab in dein Zimmer mit dir. Heute will ich dich nicht mehr sehen. Ab sofort kontrolliere ich, ob du genug lernst, deine Mobilgeräte kommen zu uns. Es wird Zeit, dass du dich wieder mehr anstrengst!“
Die Tochter sah sie enttäuscht an, während der Sohn wieder zu strahlen schien. „Ihr versteht es einfach nicht. Ihr versteht es nicht.“ hauchte sie, erhob sich dann und lief mit gemischten Emotionen in ihr Zimmer.