Das schönste Lächeln

Wettbewerbsbeitrag von Saliha Zayat, 16 Jahre

Unser Leben schien ganz normal, ich eine sehr gefragte Anwältin, mein Ehemann Jay ein reicher Geschäftsmann, unser Sohn 5 Jahre alt. Ich stellte ihn nie infrage, niemals, er war die Liebe meines Lebens. Dennoch, seit Tagen verhält er sich zu normal.
„Schatz, machst du dir etwa keine Sorgen?“ sagte ich etwas angespannt. „Was denn? Meinst du die Sache mit meinen Stiefbruder?“ sagte er locker, als wäre es das normalste auf der Welt. „Klar, machst du dir denn keine Sorgen? Er ist seit einer Woche verschwunden, genau eine Woche bevor er die Firma eures Vaters übernehmen sollte“, sagte ich mit einer leicht nervösen Stimme.  Er drehte sich um, und sah mich mit einem eiskalten Blick an, ich erstarrte. „Denkst du etwa, dass ich etwas damit zu tun habe?“, fragte er ernst. „Nein Schatz, natürlich nicht, du würdest keiner Fliege was zu leide tun, ich kenne dich viel zu gut“, ich wartete seine Reaktion ab. Aus ihm brach ein unkontrolliertes aber herzliches Lachen heraus, er bewegte sich langsam auf mich zu, er gab mir einen Kuss auf die Stirn, wie immer. „Schatz, ich räume hier noch zu Ende auf, du hast heute viel gearbeitet, geh schon mal schlafen“, sagte er mit seiner ruhigen Stimme. Als ich Bett lag konnte ich nicht schlafen, wie konnte ich nur an ihm zweifeln? Er konnte schließlich auch nichts dagegen machen, er ist so beschäftigt. Seine ruhige Stimme, seine Fürsorglichkeit für unsere Familie, all seine Taten, die er für uns vollbrachte, niemals hätte er etwas damit zu tun!
Als ich aufwachte wusste ich, dass ich zu spät war. Wie üblich brachte mein Mann den Kleinen in den Kindergarten und ging anschließend zur Arbeit. Ich beschloss, mir kurzfristig frei zu nehmen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Als ich am Küchentisch saß, um Dokumente zu überprüfen, hörte ich etwas, es war sehr laut, als würde etwas gegen eine Wand knallen ohne zu stoppen. Ich rannte in unser Schlafzimmer, ich bekam panische Angst. Ein Entführer, der es auf unsere erfolgreiche Familie abgesehen hatte? Ich lehnte mich an die Wand, die Geräusche wurden stärker, aber es hörte sich an, als wären sie unter mir. Ich beschloss in sein Arbeitszimmer zu gehen und ihn über unser Haustelefon zu erreichen. Die Schublade des Schreibtisches war etwas geöffnet. Aus Neugier schaute ich hinein. Es war ein goldener alter Schlüssel. Ich wusste auch zu welchem Schrank in seinem Zimmer er gehörte. Er verbot mir diesen Schrank zu öffnen, da dort Andenken an seine verstorbene Mutter lagen. Die Neugier überwog und ich öffnete ihn.
Eine lange schwarze Treppe führte hinunter. Das Geräusch kam von ganz unten. Als ich unten ankam und das Licht anschaltete, sah ich etwas grausames. Ein Mann ohne Finger, blutüberströmt, angekettet an einer Wand. Als ich näher trat erkannte ich ihn an seinem pechschwarzen Haar.
„Oh mein Gott, John?“ schrie ich. „Hilfe, bitte“ sagte er mit leiser Stimme. Es war Jays Stiefbruder. Ich versuchte etwas unter den Werkzeugen zu finden, um John zu befreien, als ich durch den Raum rannte, fiel mir etwas auf. Auf den Wänden hingen Anleitungen, Anleitungen die erklären, was Emotionen sind und wie man sie zeigt. Bücher, die beschreiben welche Gefühle man zu bestimmten Anlässen braucht. „Dein Mann ist ein Psychopath und hat Alexithymie“ schrie John. Meine Welt brach in tausend Stücke. Mein doch so perfekter Mann hatte also noch nie Gefühle und hatte mir nur was vorgespielt? „Alles war nur ein Schein?“, kam heiser aus mir heraus. „ Er hatte also nie Gefühle für mich oder für seinen Sohn?“, sagte ich weinend. Ich begriff, dass er mich all die Jahre ausnutze, um sein Leben weiterhin ohne Verdacht leben zu können.
„Er hat auch meine Mutter brutal ermordet, er wollte uns nie in seinem Leben haben, weil er sonst die Firma seines Vaters nicht übernehmen konnte“, erklärte mir John. Mir wurde schwindelig, ich wollte wieder hier raus und dann die Polizei kontaktieren. Als ich die Treppen hoch rannte und die Tür öffnete stand er vor mir.
„Schatz ich habe dir doch ausdrücklich verboten, dich in meinen Sachen einzumischen“ und gab mir das schönste Lächeln, was ich je zuvor gesehen habe. Er gab mir wie gewohnt einen liebevollen Kuss auf die Stirn, trat einen Schritt zurück und trat mich die Treppen hinunter, die ich hoch gerannt war. Ich sah mein ganzes Leben an mir vorbeiziehen, die schönen Erinnerungen an meine Familie. Mein Mann, mein Sohn und ich lächelnd. Ich sah wie ich in Zeitlupe hinunterfiel, mit Aufsicht auf meinen Ehemann, wie er mir immer noch das schönste Lächeln schenkte, bis ich schließlich rot sah.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Saliha Zayat, 16 Jahre