Ich meine

Wettbewerbsbeitrag von ESW, 14 Jahre

Ein Fremder ist nur ein Freund, den du noch nicht kennst. Was für ein Schwachsinn, denke ich, als ich den zerbrochenen Glückskeks anschaue. An sich schmecken mir die Glückskekse, die mir meine Mutter manchmal in den Schulranzen steckt, aber die Zettel im Inneren sind der perfekte Beweis, warum die Gesellschaft relativ verdammt ist. Ich meine, als ob jemals irgendjemand etwas dadurch bekommen hat, und sei es auch nur ein Lächeln, dass er ein Stück Papier gelesen hat, auf dem steht „Du schaffst alles was du dir vornimmst – 😊 Yaaay“. Mir bringt es auf jeden Fall nichts, deswegen stecke ich das kleine Papier ganz tief in irgendein Seitenfach meines Ranzens, da ich nicht will, dass wegen mir Papierschnipsel im Bus herumliegen. Hätte ich mir sparen können, denn eine Sekunde später trifft mich schon ein Papierkügelchen am Hinterkopf. Ignorieren, dann hört es auf, denke ich. Doch schon trifft mich die nächste Kugel. „Hey, du Freak“ ruft Mark aus einer der hinteren Reihen. Andere Menschen, das Mysterium. In unserem Bus sitzen extrem viele davon, schwitzende Teenager, die meisten davon relative Klischees, auch wenn sie selbst das natürlich nie zugeben würden. Sonst wäre man selbst ja nicht besonders. Ich verstehe nicht, warum man besonders sein will. Ich bin nicht besonders, klar, ich steche raus, somit könnte man das schon als besonders kennzeichnen, doch sozial bin ich eher komisch, das ist etwas ganz anderes. Andere Menschen verstehe ich nicht, ehrlich nicht, sie scheinen um mich herum zu agieren, wie Lebewesen, so lächelnd, so energetisch, fließend, sie gehören dazu. Ich nicht. Ich bin tot oder so, glaube ich zumindest, denn mein Körper fühlt sich an als gehöre er zu etwas ganz anderem als mein Geist. Und mein Kopf, naja, der will mich selbst die meiste Zeit loswerden. So wie die Welt. Vielleicht habe ich auch einfach nur einen Defekt. Eine weitere Kugel trifft. „Pass auf dass du dich nicht gedanklich in eine Paralleldimension verirrst. Wie es Monster halt sonst tun“ ruft irgendwer. Ich hasse Busfahren.

Es ist Morgen. Der Bus hält und die Türen öffnen sich langsam. Die üblichen Schüler drängen sich herein. Ganz hinten steht ein Mädchen, dass ich noch nie gesehen habe. Geht wahrscheinlich auf die Nachbarschule. Lange zottelige Haare, Kopfhörer um den Hals, übergroßen Pullover. Und das im Sommer. Manche Leute haben echt Nerven. Ich meine, ich hasse kurze Klamotten, wegen dem Gefühl, dass du der Welt nur noch mehr von dir zeigst, selbst wenn es nur deine Arme sind. Aber je mehr die Welt mich erkennt, je mehr Chancen hat sie mich auszustoßen. Klingt krank oder so. Ist es wahrscheinlich auch. Oder schizophren, auch wenn ich nicht ganz weiß, was das heißt. Trotzdem habe ich nicht den Wunsch am Tod durch Pullover zu sterben. Plötzlich höre ich etwas neben mir. Das Mädchen hat sich gesetzt. Auf den Platz neben mich. Warum setzt sie sich freiwillig im Bus neben einen Fremden? Manche Leute sind echt verrückt.
Auch am nächsten Tag sitzt sie wieder neben mir. Ich betrachte sie aus den Augenwinkeln. Unglaublich dürr ist sie. Wie ein mit Stoff bespanntes Skelett. Selbst der Pulli ist dicker. Das ist richtig eklig, finde ich. Auf der anderen Seite sollte ich aber auch aufhören, andere Leute aufgrund ihres Aussehens zu verurteilen. Gott, was ist eigentlich mit mir los?

Auch am nächsten Tag sitzt sie da. Und am nächsten. Und am übernächsten. Und am Tag darauf. Sie hört Musik. Glaube ich. Jemand hat in der Schule Kaugummi auf meinen Ranzen geklebt. Sie betrachtet den verklebten Verschluss. Wir wechseln kein Wort. Warum sollten wir auch?

Wenn ich schlafe, muss ich träumen. Wenn ich träume, habe ich Albträume. Keine mit Monstern, die mag ich, denn auch sie sind seltsam. Nein, wenn ich träume, ertrinke ich. Ich ertrinke in dem Wasser, das die Welt ist. Schlage um mich, versuche zu atmen, doch das Einzige was ich von der Oberfläche sehen kann, ist ein entfernter Lichtfleck. Aus den Schatten schlingen sich Hände um mich. Modrige Hände. Sie umschließen meinen Mund, während ich versuche zu schreien. Bis ich aufwache sterbe ich. Ich hasse das Träumen. Deswegen schlafe ich nicht viel.
Morgens bin ich meistens müde. Ist irgendwie klar. Trotzdem merke ich, dass etwas anders ist bei dem Mädchen. Sie sieht aus als hätte sie geweint. Die Augen sind leicht verquollen, sie senkt den Kopf. Ich spreche sie nicht darauf an.
Heute verrutscht ihr Pulliärmel etwas. Sie zeichnet. Klauen und Zähne. Auf ihrem Arm kann ich rote Linien erkennen. Wie bei mir.
Auf der Heimfahrt liegt heute ein Zettel auf unseren Plätzen. „Loserpaar“, steht darauf. Das Mädchen zerknüllt den Zettel und steckt ihn ein. Ich ignoriere den Zettel komplett. Keiner von uns beiden sagt etwas.
Am nächsten Tag ist das Mädchen nicht da. Und am nächsten. Und am übernächsten. Drei Monate verstreichen. Ich glaube sie hasst mich jetzt.

Heute setzt sich jemand neben mich. Das macht mich irgendwie sauer. Doch es ist das Mädchen. Ich hätte sie fast gar nicht erkannt. Sie trägt ein T-Shirt. Ihre Haare sind gepflegter und sie hat zugenommen. Trotzdem spreche ich sie nicht an, obwohl ich wirklich will.
Als ich zuhause meine Schultasche öffne, finde ich einen Brief. Der Autor erklärt die eigene Geschichte über mentale Probleme und Stress in der Schule. Das Gefühl, nicht in die Welt zu gehören. Auf der zweiten Seite reißt das Maß, und der Autor holt sich Hilfe, spricht mit den Eltern, geht zur Therapie. Drei Monate lang geht er nicht in die Schule. Unter dem Text steht eine Nummer. Daneben steht ein Wort: Hilfe. Ich weiß nicht, warum ich das mache. Warum ich den Rat eines völlig Fremden befolge. Wobei der Autor nicht fremd ist. Beziehungsweise die Autorin. Ich glaube, dass wenn man monatelang jeden Morgen und Mittag für eine halbe Stunde nebeneinandersitzt, ist man nicht mehr fremd. Selbst wenn man kein Wort miteinander redet.

Es ist wieder Sommer. Die Sonne scheint und die Straßenbahn ruckelt. Der leere Sitz neben mir erinnert mich vage an das Mädchen im Bus. Das ist Jahre her. Seit damals ist viel passiert. Ich habe mir Hilfe geholt. Habe gelernt, mit mir klar zu kommen, mich zu akzeptieren. Und die Schule gewechselt, um wegzukommen von dem Ort, der mir dieses Weltbild verschafft hat. Zum Glück wohne ich in der Stadt. Da geht sowas einfacher glaube ich. Auf jeden Fall habe ich jetzt Freunde, ein Leben, Akzeptanz. Es ist zwar nicht alles einfach, das war es nie, und der Weg hierhin war steinig, aber ich bin stolz auf das, was ich geschafft habe. Natürlich war das alles kein Wunder, ich hatte zwar Glück, aber musste mich auch echt anstrengen. Alles in allem habe ich es aber geschafft, und mir geht es gut. Naja, so gut wie es einem im Leben halt gehen kann. „Hey“, unterbricht mich eine fremde Stimme plötzlich „Darf ich mich setzen?“. Ich blicke auf zu einem Mädchen mit langen Haaren und Kopfhörern. Sie lächelt mich an, als hätte sie ein Geheimnis, das nur wir beide kennen. Ich hätte sie fast nicht erkannt. „Natürlich“ antworte ich und grinse zurück „Lange nicht gesehen“

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.