Jedes Jahr aufs Neue feiert man seinen Geburtstag. Als Kind war es immer der schönste Tag, auf den regelrecht hingefiebert wurde. Mit den Jahren ist dieser Tag bedeutungsloser geworden. Natürlich ist es schön, seine gesamte Familie um sich zu haben. Aber sobald man 50 Jahre alt wird, erscheinen die Jahre nur noch so vorbeizufliegen. Die Jugend, in der man Bäume verrücken konnte, nähert sich allmählich dem Ende. Für mich ist es allerdings noch immer ein besonderer Tag. Denn nur an meinem Geburtstag bekomme ich meine so geliebte Marzipan Torte. Versteht mich nicht falsch, andere Kuchensorten haben selbstverständlich auch ihren Reiz. Allerdings ist Marzipan besonders, mit seinem ganz persönlichen nussartigen Geschmack. Dieses leicht würzige Aroma, was sich im Mund verteilt, sobald man mit Kauen beginnt. Kein Wunder also, dass ich im Normalfall drei Stücken auf einmal essen würde. Aber dieser Normalfall ist nicht heute. Generell hat sich seit letztem Jahr kein einziger Moment mehr normal angefühlt. Schon allein der Anblick dieses Kuchenstücks deprimiert mich. Mit leichtem dünnem Zuckerguss ist die Zahl 50 auf dem Stück verzieht. Fünfzig, was für eine Zahl. Letztes Jahr hätte es mir noch nicht so viel ausgemacht, auf die 60 zuzugehen. Aber heute bin ich einfach nur dankbar und froh, dass ich diesen Anlass hier feiern darf. Es ist schon komisch, wie ein einziger Moment deine gesamte Einstellung verändern kann. Oder in meinem Fall mein komplettes Leben. Wenn ich zurückdenke an mein altes Ich, fühle ich meistens Schmerz und Kummer. Natürlich sollte man dankbar dafür sein, dass einem die Möglichkeit gegeben wurde, weiterzuleben. Aber es ändert nichts daran, dass man selbst einfach ein komplett neuer Mensch ist. Und ich rede nicht von der Variante, wo eine neue Frisur zur Typveränderung führt. Nein, das wäre schön. Ich meine das Gefühl, wenn dein Körper dir komplett fremd vorkommt. Wenn er nicht macht, was du eigentlich willst. Dein Gehirn, wie in Zeitlupe arbeitet, um Wörter für einen Satz zu suchen. Du versuchst dich an das Gespräch mit deiner Tochter noch vor 60 Min. zu erinnern, es aber nicht kannst. All das hätte ich nie gedacht, dass ich mich einmal dem stellen muss. Welcher Mensch rechnet auch damit, mit 49 Jahren einen Schlaganfall zu haben?
Wenn ich mich recht daran erinnere, war es ein ganz normaler Tag, an dem ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Meine Frau hatte den Notarzt sofort angerufen, nachdem langsam meine Gesichtszüge auf der linken Seite angefangen haben sich zu senken und taub zu werden. In der Zeit, bis der Notarzt eingetroffen ist, muss ich auch das Gefühl in den Beinen verloren haben. Zumindest erinnere ich mich noch daran, wie mich zwei Sanitäter auf einer Pritsche zum Krankenwagen getragen haben. Danach herrscht eine komplette Lücke. Nur an Bruchstücke erinnere ich mich heute noch. Dabei flackern immer wieder Erinnerungen auf, in denen meine Frau und meine Tochter an meinem Krankenbett sitzen und mir zureden, dass ich schon viel fitter aussehe. Der Rest fühlt sich nur verschwommen an. Auf dem Weg zum Krankenhaus und in die Notaufnahme muss ich wohl auch geschlafen haben. Zumindest kann ich mich an meinen Traum erinnern. In diesem Traum war ich in Italien und konnte die wunderschöne Landschaft am Gardasee genießen. Das Gefühl von der Sonne auf meiner Haut und dem Klang der vorbeifahrenden Fähren kommt mir bis heute viel realer vor als die Bruchstückerinnerung der MRT-Aufnahme. Nachdem ich die ersten Tage im Krankenhaus versorgt wurde und keinen weiteren Schlaganfall bekommen habe, begann die Genesung mit kleinen Übungen. Ich hatte das Gefühl zurück in die Grundschule versetzt zu werden, in der einem beigebracht wurde, wie Laute und Buchstaben ausgesprochen werden. Meine Hausaufgabe bestand darin, ein Lächeln zu probieren oder meine Nase kraus zu ziehen. Alle Übungen, die die Ärzte mit mir versuchten, strengten meinen Körper auf ein Maximum an. Nachdem anderthalb Wochen im Krankenhaus vergangen waren, begann ich endlich wieder etwas in den Beinen zu fühlen. Das war mein erster Hoffnungsschimmer. Ab da an quälte ich mich täglich durch die Reha, um endlich wieder genesen zu werden. Ich meisterte die ersten Schritte und brachte die Reha zu Ende, mit dem Ergebnis, dass nur noch mein Mundwinkel runterhing und meine Geschmacksnerven nichts wahrnahmen. Allerdings empfand ich es als einen so großen Erfolg. Besonders meine Familie half mir in dieser schweren Phase weiter. Jedoch wurden die Fortschritte der Genesung nach der Reha immer weniger. Selbst nach 6 Monaten konnte ich nicht normal lächeln. Immer senkte sich ein Mundwinkel nach unten und präsentierte jedem, dass ich noch immer krank bin. Allerdings ist nun fast ein Jahr vergangen und ich muss mich wohl mit den aktuellen Fortschritten, die ich seitdem gemacht habe, abfinden. Trotz allem stört mich besonders heute am meisten dieses Kuchenstück vor mir. Es symbolisiert genau das, was ich vor knapp einem Jahr verloren habe. Hätte ich nicht diesen Schlaganfall gehabt, dann hätte ich heute den nussigen Geschmack und die leichte Süße des Marzipans auf meiner Zunge schmecken können.
Meine Familienmitglieder schauen mich erwartungsvoll und aufmuntert an. „Papa, willst du nicht deinen Kuchen probieren“ wendet sich meine Tochter an mich. Ich schaue in das fröhliche Gesicht meiner Tochter und erwidere: „Ach vielleicht später mein Schatz.“ Sie guckt ein bisschen skeptisch, aber mit diesem wissenden Blick. Wie so oft, weiß sie genau, welche Gefühle in meinem Inneren gegeneinander ankämpfen. Charme, Wut, Erleichterung, Dankbarkeit und Enttäuschung bilden einen Strudel aus Emotionen, die ich nur selten zurückhalten kann. Wie oft ist es mir schwergefallen in Situationen, wo ich mich überfordert gefühlt habe, in den letzten Monaten nach Hilfe zu bitten. Das ist wohl die Sünde, wenn man schon immer einen Dickschädel hatte. „Ich habe den Kuchen extra für dich gebacken. Probiere ihn doch wenigstens mal!“ sagt nun auch noch meine Frau. Ihr aufmunterndes Lächeln bewegt mich dann doch noch die Gabel in die Hand zu nehmen und ein kleines Stück von dem Kuchen zu probieren. Langsam führe ich die Gabel zu meinem Mund und koste das Stück. Zuerst ist es wie gewohnt, der eintönige nach nichts schmeckende Geschmack. Allerdings nehme ich leicht eine gewisse Süße wahr. Nachdem ich anfange zu kauen, verteilen sich weitere Aromen in meinem Mund. Ich kann das Marzipan genau schmecken. In diesem Moment muss ich ungewollt lachen. Meine Tochter guckt mich komplett überrascht an. In diesen Tagen hatte ich nicht oft Momente, in denen mir ein Lachen so leicht von den Lippen gekommen ist. Ich drehe meinen Kopf zu meiner Frau und sage: „Der Kuchen schmeckt großartig. Genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte!“ Verblüfft erwidert sie: „Du kannst das Marzipan schmecken?“ „Ja, und es hat noch nie so gut geschmeckt. Es schmeckt nach Hoffnung“. Hoffnung auf weitere Fortschritte und weitere Jahre mit Marzipan Torte.