Sorgfältig zähle ich die Risse in der Wand, damit alles wieder gut wird. Ich zähle bis sechs, eine schöne, gerade Zahl. Dann beginne ich wieder von vorne, denn ich war eindeutig nicht sorgfältig genug. Mein Herzschlag versucht dem Radio den Takt vorzugeben, doch der hält sich nicht daran. Sechsmal zähle ich bis sechs. Denn sechsunddreißig ist schöner als sechs. Tausendzweihundertsechsundneunzig wäre noch schöner, aber was zu weit geht, geht zu weit.
Ich halte mich am Bettpfosten fest, während draußen der Regen gegen die Scheibe prasselt, und die Tränen der Frustration über meine Wangen laufen. Gestern noch war alles anders gewesen. Oder zumindest vor nicht allzu langer Zeit. Doch plötzlich scheinen all meine Pläne in eine Einbahnstraße zu führen, als hätte das Navi einen Totalzusammenbruch. Vielleicht ein Virus? Bedrohlich ist der Weg, und das Ziel hat seinen Reiz für mich verloren. Dies ist keine Nervosität, die einem erst den nötigen Kick verleiht, und auch keine Angst, die es zu überwinden gilt. Die pure Panik schwappt über mir zusammen, macht mich bewegungsunfähig und hindert mich am Atmen. Der Raum ist zu klein und gefüllt von giftigen Dämpfen, die aus den Wänden kriechen und langsam in mein Gehirn sickern.
Als ich zum sechsten Mal den sechsten Riss gezählt habe, müssen meine Gedanken schnell umgelenkt werden, beschäftigt werden, denn ich weiß, sechsunddreißig ist nicht genug, und wenn ich nur einen Moment überlegen würde, müsste ich wieder bei null anfangen.
Ich beobachte die Zeiger auf meiner Uhr, die so eigensinnig tun, was immer sie wollen. Ich möchte ein Minutenzeiger sein. Ich habe Angst, dass der Zug ohne mich abfahren könnte. Eigentlich sollte ich längst am Weg zum Bahnhof sein. Hektisch werfe ich die nötigsten Dinge in meinen Rucksack und lasse doch genau diese liegen. Ich stürme zur Tür so schnell es geht, um den Rissen keine Chance zu lassen. Züge fahren häufiger, dieser sogar stündlich, aber was, wenn mein Zug bereits abgefahren ist?
Am Gang drehe ich wieder um, in der Gewissheit, die Heizung nicht abgeschaltet zu haben. Die Heizung war bereits aus, aber sicher ist sicher. Ich kontrolliere sie sechsmal, wer weiß, was dir und mir und uns sonst zustoßen könnte. Wieder auf dem Weg zur Tür, sammle ich mein Handy ein, das ich natürlich liegengelassen habe und schalte das Licht aus. Und wieder ein. Aus und wieder ein, aus und wieder ein, zwölfmal. Damit nichts Schlimmes passiert. Damit alles gut wird. Ich glaube zu wissen, dass der Lichtschalter und dein Wohlbefinden in keinerlei Verbindung stehen, aber zählen muss ich trotzdem, nur um sicher zu gehen. Und mit jedem Umkippen des Schalters legt sich eine eiserne Faust ein bisschen enger um meine Brust. Ich will nicht mehr zählen, und schalte doch ein aus, ein aus, ein aus, ein…
Ich werfe die Tür zu und drehe den Schlüssel dreimal im Schloss. Zu und wieder auf, zu und wieder auf. Ich zittere und habe Angst zu ersticken, da ich fürchte vergessen zu haben, wie Luftholen funktioniert. Die einst freundlichen Zahlen werden zu meinen Feinden, die ich so heftig bekämpfe, dass ich mir die Hände blutig schlage. Aber sie rasen unbeirrt weiter durch meinen Kopf, nur meine Arme werden von den Faustschlägen ins Leere immer schwerer. Je weiter ich zähle, desto schönere Zahlen erreiche ich, doch keine ist schön genug, nie wird eine schön genug sein. Mit größter Willenskraft reiße ich mich los und stürme den Gang entlang nach draußen. Immer in der Überzeugung, gerade dein Verderben besiegelt zu haben, aus purem Egoismus und meiner Unfähigkeit lange genug durchzuhalten, lange genug zu zählen.
Es dauert, bis die donnernde Straßenbahn, die sonst so regelmäßig kommt, in die Haltestelle einfährt. Sie bremst abrupt, als würde sie mich eigentlich lieber nicht mitnehmen wollen, und wäre einfach weitergefahren, wenn nicht zufällig gerade die Notbremse gezogen worden wäre. Wenigstens jemand ist auf meiner Seite.
Gerade noch rechtzeitig, aber viel zu spät erreiche ich den Hauptbahnhof.
Der Zug fährt ein. Ich lasse mich ans Ende der Schlange fallen, um nicht von Aktentaschen und Klappscootern erschlagen zu werden. Steige ein und bei der nächsten Tür wieder aus. Schwebe für einen Moment zwischen Einstieg und Bahnsteig in der Luft. Der Schaffner wirft mir einen Blick zu, den ich nicht sehe. Zu viele Augen ruhen auf mir. Ich steige ein und wieder aus. Der Schaffner pfeift. Ich springe in den Wagon und die Türen schließen sanft, bevor sich wenige Augenblicke später der Zug in Bewegung setzt.
Ich habe die Reise geschafft. Jetzt stehe ich hier in meinem Zimmer und halte mich am Bettpfosten fest, obwohl die eigenen vier Wände ungefährlich und die Fenster weit geöffnet sind. Ich zittere dem anbrechenden Tag entgegen. Die Tränen schütteln mich, verzerren mein Gesicht zu einer Fratze. Ohne Plan, der mir sagt, wohin es geht, scheint selbst die sicherste Umgebung bedrohlich. Ich würde gerne sagen, dass ich meinen Plan schlussendlich wiedergefunden habe, und auf den richtigen Weg zurückgekehrt bin. Die besten Geschichten sind doch die, wo die Protagonistin tief fällt, aber umso höher wieder aufsteigt. Doch ich weiß nicht, wie hoch ich aufsteigen werde, denn der Abgrund, in dem ich liege, erscheint mir tief. Ich kämpfe verzweifelt um jeden einzelnen Schritt in Richtung geordnete Bahnen, und weiß doch nicht, ob ich meinen Plan je wieder zu Gesicht bekommen werde. Ich habe auch keine Lust danach zu suchen, denn obwohl der Weg ausgesprochen bequem war, bin ich unsicher, ob ich überhaupt zu ihm zurückkehren will.
Vielleicht werde ich einen neuen Plan schmieden, aber wahrscheinlich eher nicht. Bin ich doch vom ewigen Kampf geschwächt, unfähig, überhaupt das Gewicht eines Hammers zu tragen.
Ich habe noch immer Angst, vielleicht mehr denn je. Denn die Welt ist ein beängstigender Ort. Und das Vorwärtskommen abseits ausgetretener Pfade nicht immer leicht. Wurzeln und Steine können einen leicht zu Fall kommen lassen. Aber muss ich wirklich weitersuchen, nach einem Plan, der ohnehin keinen Wert für mich hat? Muss ich weiter kämpfen, um meine Stärke zu beweisen und mich dabei wieder und wieder KO zu schlagen? Es ist mir peinlich zu stolpern, denn ich habe Angst ihr könntet lachen. Aber als ich falle, und unfähig bin, deine rettende Hand zu ergreifen, da legst du dich zu mir auf den Boden, der gar nicht so hart ist, wie er scheint.
Ich sehe die Risse an der Wand und unwillkürlich formen sich meine Finger zu einer Faust, bereit sie daran abzuzählen, damit die Welt wieder in Ordnung gebracht wird, damit alles wieder gut wird. Bereit das Schwert zu ergreifen und zu tun, was sie glauben, tun zu müssen. Doch ich lasse die Risse Risse sein und das Schwert klirrend zu Boden fallen. Ich darf aufhören zu kämpfen, denn ich weiß nun auch ohne Plan, ich muss keine Angst haben zu verlieren, denn meine Gegnerin bin ich selbst, und egal wie der Kampf ausgeht, ich werde immer als Siegerin daraus hervorgehen.