Mein Windhauch- genug

Wettbewerbsbeitrag von Esra Toca, 15 Jahre

Tief einatmen.

Der Regen trommelt unnachgiebig auf unsere überdachte Terrasse, als wolle er das Glas durchbrechen und auf mich niedersausen.

Ausatmen.

Nässe.
Es riecht nach Kindergartenausflügen in den Wald.
Damals.
Neugierige Blicke, sorgenfreies Gekicher, ungebrochene Abenteuerlust.

Ich schluchze.
Wäre alles nur wie damals. Als ich mir keine Gedanken um den Sinn meiner Existenz machen musste.

Einatmen.

Ich schaue hoch in den Himmel. Der Mond versteckt sich hinter den Wolken. Sterne tanzen mit ihnen.

Was ist denn schon mein Leben im Hinblick auf die Lebensdauer dieser Sterne, dieses Mondes? Ich muss nur ein einziger Wimpernschlag von vielen sein. Ein unwichtiges Blinzeln, das man nicht einmal bemerkt.
Eine Millisekunde in der Unendlichkeit des Universums.
Irgendwie nichts und dennoch …

Ausatmen.

Der Wind bringt vereinzelt Regentropfen von ihrem Kurs ab, sie landen auf meinem Gesicht, auf meinem Körper.
Gänsehaut.
Meine nackten Füße spüre ich schon lange nicht mehr.

Einatmen.

Eine Frau mittleren Alters steht am Zebrastreifen. Sie trägt einen Gitarrenkoffer über der Schulter und wippt im Takt zu einer Musik, die nur für ihre Ohren bestimmt ist. Ihr Mantel ist mittlerweile völlig durchnässt und ihr kurzes, graues Haar wellt sich an den Enden. Als sie einen Schritt auf die Straße zu geht, saust ein roter Sportwagen haarscharf an ihr vorbei und spritzt sie nass. Die Frau ballt ihre Hände zu Fäusten.

Ausatmen.

Gelächter erklingt. Irgendwo erlöschen die Lichter, die aus den Fenstern dringen, Schlüsseln klappern. Frauen und Männer unterhalten und verabschieden sich.
Türen werden aufgeschlagen und genauso heftig zugeknallt. Ein Motor tuckert, ein Auto braust davon.


Ich kenne diese Menschen nicht. Wahrscheinlich kennt der große Rest der Menschheit diese Leute auch nicht. Sie bedeuten mir nichts. Ich wette, morgen würde ich mich kaum mehr an sie erinnern.
Dennoch … dennoch haben sie ein Leben. Ein Leben, das ihnen bedeutsam erscheint; Ziele, für die es sich zu kämpfen lohnt, Träume, die es zu erfüllen gibt.
Sie alle haben ein Leben, das für sie, die Familie und Freunde wichtig ist.
Aber für mich, den Rest der Menschheit und dem Universum … sind sie nichts.

Einatmen.

Wir leben auf einem feuchten Sandkorn, welches um einen gewöhnlichen Stern kreist, der sich wiederum in einer Galaxie befindet, eine Galaxie von 10.000 in einer Supergalaxie, von denen es wahrscheinlich auch Trillionen im Universum gibt.

Ich weiß, so wie wir uns an die Milliarden von Jahren vor uns nicht erinnern können, werden die Milliarden von Menschen nach uns es auch nicht tun.

Ich werde vergessen sein. Niemand wird noch wissen, dass ich jemals existiert habe.

Ausatmen.

Ein Brennen macht sich in meiner Brust breit, doch ich versuche es wegzuatmen.
Es fällt mir nicht leicht, die Sinnlosigkeit meiner Existenz zuzugeben und trotzdem …

Trotzdem stelle ich mir die Frage: Wieso existiere ich?

Man könnte Gründe angeben, wie „Gott wollte es so“ oder „alles hat seinen Grund“, aber all diese Floskeln machen doch nur das Unerträgliche erträglicher! Sie überspielen das Wissen, dass wir eigentlich gar nichts wissen.
Wieso akzeptieren wir nicht, dass es so ist, wie es ist und das auch zurecht?

Atmen.

Ich glaube, ich brauche keine Bedeutung jenseits meines Daseins und meines Lebens zu haben. Ich brauche meinen Kopf nicht über meine Vergänglichkeit oder Bedeutsamkeit zu zerbrechen, denn es ändert überhaupt nichts.
Ehrlich gesagt glaube ich, ich habe einen Sinn. Einen Sinn, den ich mir gebe.

Es ist unwichtig an gestern oder morgen zu denken, denn alles, was zählt, ist heute.
Das, was hier auf Erden passiert, vor Ort, gerade jetzt, in diesem Augenblick, was ich weiß und erlebe, solange ich wissen und erleben kann, bestimmt meinen Sinn.

Atmen.

In meiner kleinen Welt stelle ich das Zentrum dar und mir bedeuten die Kleinigkeiten etwas. Mir bedeutet es etwas, wenn mein Vater mein Lieblingsessen kocht, wenn meine Katze zu mir ins Bett springt und mit mir kuschelt. Denn es ist meine kleine Welt, in der ich Erinnerungen schreibe.
Sie ist im Hier und Jetzt, der richtige Zeitpunkt zum Lieben, zum Glauben und zum Erkunden; sie ist der richtige Zeitpunkt zum Leben.

Atmen.

Plötzlich ertönt ein Gebrüll: „Essen ist fertig! Wer essen will, der sollte jetzt runterkommen!“

Ich rapple mich eilig hoch und leichter Schwindel packt mich. Trotzdem reiße ich die Terrassentür auf und trabe auf das Essezimmer zu.

Mit einem Mal muss ich glucksen, weil die Situation so absurd ist.
Ich schüttle den Kopf.


Atmen. Weinen, grübeln, aufstehen, lachen und einfach weitermachen.


Atmen.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Esra Toca, 15 Jahre