Die Tage verlangen ihr mehr ab als sie vertragen kann und ihre Augen schmerzen von den vielen unterdrückten Tränen.
Du bist hässlich, du bist nichts wert, du bist furchtbar.
Die Worte hallen immer wieder in ihrem Kopf nach.
Stell dich nicht so an, hab ein dickes Fell, sei nicht so sensibel, sei stark.
Auch diese Worte hallen in ihrem Kopf wieder.
Ihre Schultern hängen herab. Gebückt von der Last der Welt sitzt sie am Fenster und sieht in den Abend. Die Sonne glüht noch heiß, doch die Nebel der Nacht kommen schon aus dem nahen Wald hervor, umzüngeln, begrüßen und färben ihr Herz.
Verpiss dich du dreckiges Miststück, bist selbst schuld.
Ihr Blick ist glasig, weit weg vom Licht. Tiefe Schatten erfüllen ihren Geist und ihr Herz ist betäubt. Gibt sie sich den Gefühlen hin, gibt es für sie keine Rettung mehr. Krieg und Hass spiegeln, was die Welt ihr gibt. Warum sie alles so fühlt, warum die Welt sie zu erdrückend scheint, versteht sie nicht. Mit jedem Tag fühlt sie die giftigen Worte mehr, dringen sie tiefer in ihr Herz und der Wunsch, ganz von der Welt zu fliehen, wird mächtiger. Sie will fliehen, den einzigen Ausweg nehmen, den sie noch sieht. Sie will ihrer dunklen verwirrten Seele Ruhe schenken.
Voll Tränen in den Augen greift sie nach vorn. Das Blut in ihren Adern pulsiert aufgebracht, der hölzerne Schaft liegt warm in ihrer Hand und auf dem silbrigen Metall spiegelt sich das Licht der untergehenden Sonne. Sie atmet tief durch. Ein Fleck, schimmernd, landete auf dem Blatt vor ihr. Sie schließt kurz die Augen und dann verlässt sie diese Welt.
Ihre Hand huscht flink über das Papier und ihr Geist schreibt die Geschichte ihres Herzens nieder. Sie schreibt ihre Gedanken, noch bevor sie die Geschichte selbst greifen kann. Jeder Gedanke, jede Faser ihrer Seele hängt an dem Blatt. Die Tinte tropft und ihr Herz entkrampft.
*Die letzte Fee*
Verdorrt lag das Land zu ihren Füßen. Soweit sie sah, war nichts als Asche und Rauch, Schutt und Staub. Wo einst goldene Blumen blühten, Feen spielten, war nun der Tod, der Einzige, der über die Felder tanzte.
Lukaria seufzte. "Mein Kind, hüte dich vor den eisigen Flammen der dunklen Drachen, doch suche die warmen Flammen der Drachen des Lichts". Die Worte ihrer alten Mutter hallten einmal mehr in ihrem Geist wieder, "Lass die Dunklen dein Herz nicht berühren. Gibt auf dich acht!". Ihre Mutter hatte sie so oft vor diesen Wesen gewarnt, die seit Jahrtausenden im Verborgenen wandelten, unerkannt, versteckt und doch so tödlich sein konnten, wie die Raubtiere die in den Wäldern jagten.
Mit festem Blick und hängendem Mantel lief Lukaria unverwandt weiter in Richtung des Dorfes, deren warme Feuer schon Rauchnester am Horizont zeichneten.
Sie war bereits so lange auf ihrer Reise, dass ihr jeder Gedanke an eine Zeit ohne Hast verklärt und verträumt erschien.
Stunden später kam sie in dem Dorf an.
Mit müdem Blick und einem erschöpften Lächeln lief sie schleppend direkt zur nächsten Taverne. Eine warme Mahlzeit, ein ruhiger Schlafplatz und eine ungestörte, traumlose Nacht - mehr wünschte sie sich nicht.
Der Rauch der Steppe brannte noch kratzig in ihrem Hals als sie die Tür zur Taverne öffnete. Ein würzig-klebriger Geruch schlug ihr entgegen und betäubte jeden unguten Gedanken, der seit Stunden in ihrem Kopf kreiste.
„N´abend. Was wünschen´s?“, fragte grob der rundliche Wirt mit leuchtendem Blick.
„Einen Humpen, etwas zu essen und einen Platz für die Nacht“, antwortete Lukaria sanft.
„So denn. Setz´n sich hie und ik schau was ma mach könn“, entgegnete der Wirt warm.
Lukaria setzte sich und alsbald wurde sie bewirtet. Eine zierliche Frau mit fettiger Schürze brachte ihr wortlos grunzend einen Humpen mit bitterem, fahlen Bier und einen duftenden wohlschmeckenden Eintopf.
Während Lukaria aß, beobachtete sie unauffällig das bunte Treiben um sich herum.
Verächtlich sah Lukaria einen Mann der Kellnerin an die Schürze greifen. Er zog sie geschwind zu sich heran und flüsterte etwas, das Lukaria nicht verstand. Aus seinem Mund drangen eisige Wolken, die die Kellnerin und seinen Kumpanen neben sich umzüngelten. Der andere Mann lachte süffisant und zog die bibbernde Kellnerin näher zu sich, sodass sie stolperte und mit einem kurzen Aufschrei auf seinem Schoß landete.
Angst erglomm in ihren Augen und sie kreischte fast: „Lasst mich gehen oder ihr müsst euch einen anderen Ort für die Nacht suchen“. Abfällig schauten sich die beiden Gefährten an und sie nutze den Moment, riss sich los und verschwand hinter einer Tür, die wohl in die Küche führte.
Nun fiel Lukarias Blick auf einen anderen Tisch, wo fünf Menschen Karten spielten.
Die ihr zugewandte Spielerin war am Zug. Sie redete laut und lachte, doch ihre Augen waren kalt und eine alles gefrierende Aura lag war sie gelegt. Nur Lukaria schien von alldem etwas zu bemerken. Gewitzt zog die Spielerin eine Karte aus ihrem langen Ärmel und da alle an ihren schönen Worten hingen, bemerkte es keiner. „Hoppla, Freddy ich habe das Spiel nicht ganz verstanden, habe ich jetzt gewonnen oder nicht?“, kicherte sie unsicher, aber mit einem Blick der so berechnend war, dass einem das Blut gefror und die Kälte im Raum immer unerträglicher wurde.
Lukaria stand auf und ging langsam zum Wirt an der Theke hinüber: „Ich habe mich umentschieden“, sie ließ einen klimpernden Beutel auf den Tresen fallen, „Das sollte so stimmen. Mein Weg ist noch lang, ich reise heute Nacht schon weiter“.
Der Wirt sah in den Beutel und seine Augen strahlten warm: „Werte Fruh dat Gold is doch zufill und woll´n seh nit noch bleiben! Wi bekomm´s schon hi heut Nacht. Da draus is do gefährlich!“. Lukaria blieb standhaft. „Achten´s gut auf sich!“, entgegnete der Wirt traurig und von Wärme umgeben. Wortlos antwortend ging Lukaria in die kalte Nacht.
Fest zog sie ihren schweren kratzigen Wollumhang um ihren Leib und wanderte müde weiter. Sie verließ die letzte Wärme des Dorfes und ging unverwandt weiter ihren beschwerlichen Weg.
„Die Drachen, die des Lichtes und die der Nacht leben in Herzen und tarnen sich in Worten, zeigen sich in Augen… Sie werden nie sterben, kleine Fee, nicht die eisigen…nicht die warmen…“, die letzten Worte ihrer Mutter hallten in ihren Gedanken nach.
Mit ungebrochenem Blick lief die letzte Fee noch lange weiter, bis zu dem Ort, wo mehr Drachen des Lichtes als Drachen der Nacht sie im Herzen willkommen hießen.
Sie sieht auf, legt den Stift nieder und schließt die Augen.
Tausend Sonnen funkeln am Filament der Nacht. Ein Teil ihrer Seele stirbt Tag für Tag. Geht unter im Glanz des Lichtes und erwacht in einem tiefen Schwarz. Sie ist ein Kind der Nacht. Die Melancholie erfüllt ihr Herz und ein sachtes Lächeln huscht über ihre Lippen.
"Irgendwann kehrt auch zu mir das Licht zurück".
Mit diesem Gedanken beginnt eine Knospe der Hoffnung in ihrem Herzen zu wachsen, sie ist zart und zerbrechlich, doch sie ist da. Ihre innere Nacht weicht, weicht zum ersten Mal seit vielen Monden, der Dämmerung des Tages, der ersten Stunde, der ersten von vielen kommenden Stunden des Lichtes.