Der Raum oder die Tür?

Wettbewerbsbeitrag von Sarah M., 16 Jahre

In dem von Dunkelheit erfüllten Raum, welcher sich auch ihr Dasein nannte, blickte das Mädchen, solange sie keiner aufhielt. Der Raum war leer. Nicht inhaltslos, aber leer. Bis auf die zu Beginn noch kleine Tür, gab es nichts, was es ihr wert war, der Sache eines Blickes zu würdigen. Nein, tatsächlich nichts. Die Tür war das einzige, was ihre volle Aufmerksamkeit ohne jegliches Desinteresse erreichen konnte. Diese, welche durch ihre immer größer werdende äußere Erscheinung in den Fokus dieser toten Augen des Mädchens gelang, stellte einen Schriftzug mit dem Wort „Ausgang dieses Raumes“ zur Schau. Was sich hinter dieser Tür verbarg, wusste sie nicht, aber es war auch von keinerlei Bedeutung, solange es einen Ausweg dieses Ortes bot.

Sie hob ihren Kopf, wobei sich Stück für Stück ein stechender Schmerz entlang ihrer Wirbelsäule bemerkbar machte. Sie musste bedauerlicherweise feststellen, dass sie sich noch immer in dieser falschen Welt befand. Nicht selten fragte sie sich, welchen Sinn all das haben sollte. War es nicht eine Art des Egoismus, dem Leben eine tiefergehende Bedeutung geben zu wollen?
Auch wenn sie ihren sinnfreien Tag am liebsten damit verbracht hätte, gedankenverloren mit ihren Blicken an den Häusern zu haften, wendete sich ihre Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde der Sonne zu. Um es deutlich auszudrücken, blickte sie diesen Jungen an. Ihn. Die Sonne, welche, nebenbei angemerkt, nur im Hintergrund schwebte, strahlte seinen Hinterkopf an. Sie zeichnete leichte Schatten seiner Gesichtsstrukturen. Sein Anblick ließ sie ihre überaus schlechten schulischen Leistungen in Form von anhaltenden mangelhaften Benotungen oder all ihre Probleme wie ihre Vergangenheit, ihre Unsicherheit und ihre Ich-Bezogenheit vergessen.

Aber war es das? War es wirklich eine andere Person, die dafür sorgen sollte, dass sie all das vergaß? Sollte sie diese Dinge überhaupt vergessen? Obwohl sein Anblick, dem eines einzigen Sonnenstrahlen in einer sonst dunklen Welt glich, konnte sie nicht zulassen, dass er es ist, der sie verändert. „Hattest du gerade eine Erleuchtung?“, fragte er mit einem schiefen Blick herab zu ihr. „Ja. Eine zweite.“ Seine Grübchen waren beinahe wieder vollständig zu sehen. Sie waren da, obwohl er vermutlich nicht einmal wusste, was sie meinte. „Amelie, du bist wahrhaftig etwas Besonderes.“ Ihre Fingernägel vergruben sich in den Stoff ihrer Jacke.
Tatsächlich bemerkte sie sogar erst in dieser Sekunde, wie warm ihr darin war. Allerdings trug sie diese nicht, um sich warmzuhalten, sondern um sich zu verstecken.
„Bin ich das?“, erfragte sie vorsichtig. „Ich kenne niemanden, der gleich zwei Erleuchtungen hat.“ Sie erhob sich vom Boden, wo sie sich gegen den Zaun des Daches lehnte. Es war merkwürdig. Er fragte weder nach dem Grund, weshalb sie hier sei noch nach ihren Erleuchtungen. Amelie entschied sich nicht zu antworten. Nach kurzer Zeit schnaubte er und schüttelte seinen Kopf. „Ich habe dich nun jeden Tag auf diesem Dach sitzen sehen. Jeden verdammten Tag. Worüber denkst du nahezu immer nach? Geht dir etwa jeden Tag ein Licht auf? Denn wie du handelst, machst es nicht den Anschein, als würde dir allmählich mal etwas in den Sinn kommen, was du ändern müsstest.“ Seine Worte waren zwar hart, aber seine Stimme blieb weich. „Vielleicht mache ich alles falsch. Ich muss jetzt gehen.“ Auch wenn es ihr wie die größte Hürde der ganzen Welt erschien, ging sie voran und ließ ihn hinter sich. Nicht nur physisch, denn ihr wurde klar, dass sie nicht auf jemanden warten konnte, der sie änderte, da sie niemals jemand so gut verstehen würde wie sie selbst. Amelie entschied sich dazu zu gehen und rannte anschließend die Treppen des verlassenen Hauses hinunter.

Im nächsten Moment stand sie wie angewurzelt vor der großen Straße und bemerkte mit einem Mal, wie viele Menschen unterwegs waren. All diese lebten unterschiedliche Leben und sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung davon, was für eine Art Leben sie führten. War es besser oder schlechter als ihres? Spielte das überhaupt eine Rolle? Plötzlich war nur noch der Aufprall ihres Rucksacks zu hören. Ohne zu zögern griff sie hinein und brachte ein paar zerknitterte Blätter zum Vorschein. Es war die Psychologie Klausur, in der sie trotz all ihrer Mühen nur eine fünf Zustande brachte. Die Schülerin sah zu, wie sich dunkle Flecken auf das Papier ihrer Klausur bildeten. Sie weinte. Das tat sie jedoch nicht aus Erschütterung über ihre Note, sondern vor dem Glück des Wissens darüber, dass man verwandelbar war und das aus eigener Kraft zu bewältigen war. Sie ließ einen Jungen zurück, dem sie, bevor sie sich selbst verlor, monatelang hinterherlief. Die mangelhafte Bewertung ihrer Klausur hielt sie in der Hand und machte sich dessen bewusst. Wenn sie wollte, konnte sie es ändern und das war unglaublich viel wert.

Tage später verließ Amelie das Haus. Ein sanfter Windstoß, welchen sie aufgrund der Tatsache, dass sie keine Jacke trug, spüren konnte, huschte entlang ihrer Arme. Auf dem Weg zur Schule beobachtete sie ein älteres Ehepaar, das Händchen haltend zum Eingang eines kleinen Cafés lief. Es war zwar schön zu sehen, dass Liebe auch im hohen Alter noch anhielt, doch noch schöner war es, zu wissen, dass sie erkannt hat, dass der Junge es nicht war, mit dem sie solch eine Zukunft haben sollte.

Die tiefen Augenringe, die sich unter Amelies Augen bildeten, waren das Ergebnis des stundenlangen Lernens der letzten Nacht. Tatsächlich war es das erste Mal, dass sie optimistisch und mit einem guten Gefühl in die Klausur ging. Es lag nicht nur an der Tatsache, dass sie sich dieses Mal mit Mathe anstelle von Freud beschäftigen mussten, sondern auch daran, dass sie seit langer Zeit endlich wieder normal lernen konnte, ohne einen völligen Zusammenbruch zu erleben. Die Schule zerbrach sie, aber wer stark blieb, sollte nicht zerbrechen und könnte an einer späteren Veränderung mitwirken. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, fing an zu lächeln und machte sich bewusst, dass sie das ganz allein für sich selbst tat.

Keiner musste davon überzeugt werden, dass sie glücklich war. Der Raum füllte sich - Die Tür blieb zu.

Alle Infos zum Wettbewerb

Die Verwandelbar Sieger:innenehrung

Herzlichen Glückwunsch an die Preisträger:innen!

Teilnahmebedingungen und Datenschutzerklärung

Bitte lesen!

Die Verwandelbar-Jury

Die Jury verwandelt eure Einreichungen zum Schreibwettbewerb in wohlwollende Urteile :-)

Preise

Das gibt es im Schreibwettbewerb "Verwandelbar" zu gewinnen

Einsendungen

Die Beiträge zum Schreibwettbewerb Verwandelbar

Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Sarah M., 16 Jahre