„Aber was ist mit Elina? Arbeitet ihr nicht sonst immer zusammen?“
„Ach, die! Das mache ich nur so aus Mitleid. Es wäre einfach zu traurig, sie immer allein in ihrer Ecke stehen zu sehen. Eigentlich ist sie natürlich überhaupt nicht auf meinem Niveau. Von der Intelligenz her nicht, und vom Aussehen erst recht nicht. Du solltest sie mal im Sportunterricht sehen, wenn sie versucht, einen Ball zu werfen. Dass in so dicken Armen so wenig Kraft stecken kann…“
Liz lacht und schüttelt den Kopf. Ich starre sie fassungslos an. Die Person, die sich meine beste Freundin nennt, hat gerade DAS über mich gesagt. Hinter meinem Rücken, einfach so. Ohne, dass ich ihr vorher irgendetwas getan habe.
Stumm gehe ich auf sie zu, drücke ihr das Brötchen in die Hand, dass ich in der Mensa für sie gekauft habe und schaue ihr in die Augen. Ich hoffe, ich sehe trotz der Tränen wütend und bedrohlich aus. Obwohl das bestimmt nicht der Fall ist, erschrickt Liz. Sie öffnet den Mund, holt Luft, schließt ihn wieder. Dann dreht sie sich um und geht.
Liz geht. Nicht ich bin es, die wutentbrannt wegstürmt, sondern sie. Nach ein paar Schritten zischt sie über ihre Schulter: „Wenn du nicht so empfindlich wärst, wäre das alles kein Problem. Du musst doch selbst schon gemerkt haben, dass du nicht unbedingt beliebt bei den anderen bist. Und ich war trotzdem noch so nett zu dir. Aber wenn du nicht damit klarkommst, dass ich auch mal was mit jemand anderem machen möchte, kann ich dir auch nicht helfen!“
„Darum geht es doch gar nicht, Liz! Du hast mich gerade hinter meinem Rücken beleidigt! Das ist mein Problem!“, schreie ich. Ich schäme mich dafür, so laut geworden zu sein. Auf einmal starren mich mindestens fünfzehn Jugendliche erstaunt an. Aber wenn man es von der anderen Seite betrachtet, kann ich auch stolz auf mich sein. Normalerweise kann ich nicht gleichzeitig weinen und sprechen, egal wie sehr ich es versuche.
Nur schade, dass Liz das nicht interessiert. Sie geht einfach weiter, ganz so, als hätte ich sie zutiefst verletzt. Wahrscheinlich glaubt sie das auch noch selbst. Sie ist verdammt gut darin, anderen Leuten die Schuld zuzuschieben.
„Wenn du dich ernsthaft bei ihr entschuldigst, bringe ich dich um“, droht mir Marie, während sie mich am Arm in eine abgelegenere Ecke des Schulhofs zieht. Mit ihr hat Liz gerade gesprochen, bevor ich dazukam.
„Was wollte sie überhaupt von dir?“, schniefe ich. Marie zählt eigentlich auch eher zu den Außenseitern unserer Klasse. Sie hat sich schon in der Siebten als lesbisch geoutet und wird seitdem von den meisten gemieden. Ich mag sie gerne, aber Liz fand sie immer zu uncool, um sich mit ihr abzugeben. Deshalb wundert es mich, dass sie ausgerechnet Marie damit beeindrucken wollte, mich runterzumachen.
„Sie hat mich gefragt, ob ich in Reli mit ihr zusammenarbeiten kann. Sie hat ja das Thema „LGBTQ+ und Kirche“ zugeteilt bekommen. Da wäre ich natürlich nützlich gewesen“, antwortet Marie. Sie grinst spöttisch.
„Okay, macht Sinn“, murmle ich, „das hört sich nach Liz an.“
„Sag ich doch. Um ehrlich zu sein, wusste ich, dass du da bist und uns hören kannst. Ich habe sie absichtlich nach dir gefragt, damit du endlich mal ihre wahren Absichten erkennst. Du kannst dich so doch nicht von ihr behandeln lassen! Die Schlange nutzt dich gnadenlos aus!“
Ich seufze. Inzwischen habe ich mich wieder beruhigt und kann wieder halbwegs klar denken. Obwohl ich tief in mir weiß, dass Marie recht hat, muss ich ihr widersprechen. Sie kann nicht einfach so über Liz urteilen, ohne sie richtig zu kennen. Das wäre ihr gegenüber nicht fair.
„Du kennst sie nicht gut genug“, sage ich deshalb, „sie hat auch Probleme. Ihr Vater macht ihr sehr viel Druck wegen der Schule, damit kann sie nicht gut umgehen. Sie braucht einfach jemanden, der für sie da ist. Verstehst du?“
Marie schüttelt den Kopf: „Wenn sie dich braucht, sollte sie besser mit dir umgehen, Elina. Wie sollst du bitte in der Lage sein, dich selbst zu respektieren, wenn deine ‚beste Freundin‘“ – an dieser Stelle malt sie Anführungszeichen in die Luft – „dich so behandelt?“
Ich werde vom Klingeln der Pausenglocke erlöst. Ich habe keine Antwort auf Maries Frage, die mich vollends verwirrt hat. Von diesem Blickwinkel aus betrachte ich die Freundschaft von Liz und mir nur selten. Es geht mir immer nur darum, ihr gegenüber meine Pflicht als Freundin zu erfüllen. Und als Freundin muss man doch immer da sein und helfen, zuhören und Mitgefühl zeigen, oder? Gehört es nicht dazu, dass man auch mal angemotzt wird und über Witze lacht, die man selbst nicht im Geringsten lustig findet?
Ich weiß es nicht, weil ich nie eine andere Freundin als Liz hatte. In meinen Büchern werden Freundschaften natürlich anders dargestellt, und auch die Freunde meiner Eltern verhalten sich anders. Selbst die Freundinnen meiner kleinen Schwester Ella waren neulich ganz besorgt um sie, als sie krank. Bei Liz und mir geht es nur sehr selten darum, wie es mir geht, allerdings geht es mir im Vergleich zu ihr auch unverschämt gut. Und ich schulde ihr doch genau deswegen meine Aufmerksamkeit. Oder etwa nicht?
Am Nachmittag sitze ich auf meinem Sitzsack und bin dabei ausnahmsweise mal nicht in ein Buch vertieft, weil ich mich nicht aufs Lesen konzentrieren kann. Die Auseinandersetzung mit Liz und mein Gespräch mit Marie beschäftigen mich sehr. Ich bin hin- und hergerissen und kann mich zu keinem Entschluss durchringen. Gerade als ich langsam wirklich verzweifle, klopft jemand zaghaft an meine Zimmertür.
„Können wir malen?“, fragt mich Ella und kommt mit Block und Wassermalfarben in den Raum. Das ich nicht wirklich eine Wahl habe, ist mir gleich klar. Ella breitet sich auf dem Boden aus und schickt mich ins Bad, um Wasser zu holen. An anderen Tagen wäre ich genervt, aber heute freue ich mich über ihre Gesellschaft. Meine kleine Schwester kann nur malen, wenn sie dabei redet, also plappert sie ganze zwei Stunden, bis unsere Bilder fertig sind und Mama uns zum Abendessen ruft.
Als ich später im Bett liege, beginne ich wieder nachzudenken. Warum fühle ich mich mit Ella wohl, wenn sie ununterbrochen redet und mit Liz nicht? Und auf einmal ist es mir klar. Ella und ich bedeuten uns etwas.
Deswegen interessiert mich das, was sie von ihrem Leben erzählt. Aber deshalb achtet sie auch auf mich, während sie redet. Sie ist enttäuscht, wenn ich unaufmerksam bin oder nicht an den richtigen Stellen lache. Liz ist zwar auch wütend, wenn ich ihr nicht zuhöre, aber das hat einen anderen Grund. Sie will einfach nur gehört werden, während Ella von MIR gehört werden möchte.
Für Liz bin ich also irgendjemand. Sie hat kein Interesse an Elina, an mir als Person. Und das muss ich mir nicht gefallen lassen. Langsam fange ich an, das wirklich zu begreifen. Liz ist nicht meine Freundin, warum sollte ich ihr dann meine Freundschaft schulden?
Kurz bevor ich einschlafe, nehme ich mir vor, morgen auf dem Schulhof einen anderen Weg einzuschlagen. Vielleicht ja gemeinsam mit Marie.