Ausblick

Wettbewerbsbeitrag von Elena María Nußbaum, 24 Jahre

Hey Julia,
ich bin es.
Ich weiß, du bist in der 7. Klasse. Klasse Sieben B um genau zu sein. Dein Klassenlehrer ist Herr Meyerhoff. Er unterrichtet Englisch und Deutsch, warum genau studiert man zwei Hauptfächer? Naja, egal. Ich kenne deine Klasse, kenne deinen Klassenraum von Innen. Die gelbe Tapete, die um jeden Preis versucht Neutralität auszustrahlen. Ich weiß, lächerlich. An den Stellen auf Höhe der Stuhllehnen bröckelt ihre Fassade, das ist dir aufgefallen. Es passt so herrlich ins Bild.
Ich kenne deine Klassenkameraden. Jedes einzelne Gesicht hat sich in meinen Kopf gebrannt. Ich weiß wer an welchem Platz sitzt. Du sitzt in der Mitte, direkt neben Mara an deiner rechten und Anna an deiner linken Seite.
Ich sehe dein Gesicht, du wirkst so traurig, so eingeschlossen in deinen Gedanken. Es scheint mir, als fühle sich dein Körper an wie ein Käfig, dessen Schlüssel sichtbar ist und zugleich unerreichbar scheint. Woher ich das weiß, fragst du dich jetzt bestimmt. Nun, ich habe mich mal genauso gefühlt wie du.
Bei mir war es ein schleichender Prozess. Es fing zum Ende der sechsten Klasse an. Zuerst war es nur einer, er hieß Marvin. Er machte sich über meine Zahnspange lustig. ‚Metallfratze‘ schimpfte er mich. Nicht besonders originell, ich weiß, aber es verletzte mich. Egal was ich sagte, egal wie ich schaute, jedes Mal diese Demütigung. Die Anderen bekamen es mit, sie lachten. Sogar Freundinnen fingen an zu kichern. Es führte dazu, dass meine Worte langsam verstummten. Auch mein Lächeln musste sich geschlagen geben, die Angriffsfläche musste einfach kleingehalten werden. Natürlich blieb Marvin nicht der Einzige, es gebrauchten immer mehr meiner Mitschüler das entsetzliche Wort. Das Wort, dass mich jetzt ausmachte. Ich sah in den Spiegel und blendete alles andere aus. Ich mochte einst meine Augen, meine Lippen, meine Nase, doch die Zahnspange ließ all das verblassen. Sie raubte all mein Selbstbewusstsein, dabei war sie ja gar nicht das Problem, es war das Problem der anderen und wurde so zu meinem.
Dabei sollte es nicht bleiben, sie fanden weitere Dinge an mir, die ihnen nicht passten. Meine unreine Haut, meine Kleidung, meine Größe, meine Statur. Jeder Teil meiner Identität wurde in Stücke gerissen und ich wusste nicht mehr, wie ich diese wieder zusammenfügen sollte.
Ich fing an mich zurückzuziehen. Ich fragte mich, ob ich jemals Freunde hatte, jetzt hatte ich jedenfalls keine mehr. Mit mir wollte sich keiner mehr sehen lassen. Mir entglitt meine letzte Stütze.
Meine Tage wurden dunkler, bis zu dem Zeitpunkt, an dem kein Licht mehr durch die dichten Wolken drang. Jedes Wort, jede Beleidigung, jede Demütigung setzte sich schwer auf meine Schultern. Drückte mich nieder, bis ich schließlich nicht mehr aufstehen konnte. Das Gewicht war zu enorm.
Das waren die schwärzesten Tage meines bisherigen Lebens. Es fühlte sich an, als liefe die Zeit in Endlosschlaufe. Gefühlt befand ich mich nur noch in der Schule, nur noch in diesem Klassenraum mit der gelben Tapete, die langsam abbröckelte. Vor mir Herr Meyerhoff, der eine Augenbinde zu tragen schien und ich inmitten von Mara und Anna.
Jetzt hast du verstanden.
Deine Geschichte geht weiter.
Nach den finstersten Tagen werden sich die Wolken langsam lockern. Es werden Lichtstrahlen durch die Fenster deiner Seele dringen. Du wirst deinen dich schützenden Tunnelblick ablegen und die hellen Funken erblicken. Es ist Mama, sie war die ganze Zeit da, du konntest sie nur nicht sehen. Sie wird dir helfen. Sie hört dir zu, du musst es ihr nur sagen. Sie hat bemerkt, wie sehr du dich zurückgezogen hast und schaut nicht weg. Sie gibt sich nicht mit der nächstbesten Antwort zufrieden. Sie bleibt dran, denn sie ist stark. Und du bist es auch. Nachdem du ihr alles erzählen wirst, werdet ihr gemeinsam beschließen, dass es am besten ist, wenn du dich stationär aufnehmen lässt. Du musst aus dem Klassenzimmer mit den gelben Wänden rausgezogen werden, um heilen zu können.
Am ersten November 2013 wirst du deine Therapie beginnen und dir wird bewusst werden, dass ein langer und steiniger Weg vor dir liegt. Aber du warst bereits am tiefsten Punkt deines bisherigen Lebens, also scheint selbst dieser mühsame Weg, wie ein Weg aufwärts. Du wirst es als eine Treppe betrachten und jede Stufe wird dich Kraft kosten. Doch nachdem du sie erklommen hast, wirst du den Ausblick genießen. Das ist ein Versprechen.
Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es ginge nur aufwärts. Nein, du wirst auch wieder ein paar Stufen zurückfallen, aber das ist in Ordnung, denn du bist stark. Irgendwann werden dich nur noch manche Stufen Kraft kosten, es werden die schönen Momente des Ausblicks überwiegen. Dir wird klar werden, dass die Stufen dein Gefühlsleben sind. Du wurdest damals weit nach unten geworfen, aber heute bist du oben. Du hast gelernt, wieder die schönen Dinge wahrzunehmen. Du verstehst, dass du den Ausblick niemals ohne die Anstrengung in dem Maße wertschätzen würdest.
Du verstehst, dass es schlechte Zeiten geben muss, um die Guten wahrzunehmen.
Du wirst die Therapie erfolgreich beenden und anschließend die Schule wechseln. Du wirst in eine neue Klasse mit neuen Mitschülern und einem neuen Klassenlehrer kommen. Du wirst Freunde finden. Du wirst glücklich sein. Es werden auch wieder dunkle Tage kommen und du wirst nochmal in eine ambulante Therapie gehen, aber du weißt jetzt, wie du die Warnsignale erkennst und Schlimmeres verhindern kannst. Du hast deine innere Stärke wiedergefunden und keine Angst davor mit Depressionen zu leben.

In Liebe,
dein dreiundzwanzig jähriges Ich.

„Wie war es für Sie, den Brief an sich selbst zu schreiben?“ fragt die Therapeutin.
„Es war aufwühlend“, sage ich. Frau Dr. Schulze sieht mich an und sagt nichts.
„Ich musste mich mit Dämonen auseinandersetzen, von denen ich glaubte, sie längst besiegt zu haben“, spreche ich in die Stille, mehr zu mir selbst als zu meiner Therapeutin.
„Wie fühlen Sie sich jetzt, nachdem Sie den Brief geschrieben haben? Wie fühlte es sich an, ihn mir vorzulesen?“.
„Es macht mich stolz. Ich fühle mich stark.“




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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Elena María Nußbaum, 24 Jahre