„Ich werde abtreiben.“ Sunnys Worte gehen fast im Stimmengewirr unter. Aber Lulu hat sie gehört. Die beiden sitzen in ihrem Lieblingscafé. Es ist schon dunkel draußen und der Regen prasselt gegen das Glas. „Das ist dein gutes Recht.“ Bei Lulus Erwiderung lässt Sunny die Stirn auf die Tischplatte sinken. „Aber ich wollte… ich will doch ein Kind. Ich habe es mit Thomas geplant“, murmelt sie. Lulu streckt behutsam die Hand aus und krault Sunnys Kopf. „Das heißt nicht, dass du es dir nicht anders überlegen kannst. Es ist dein Leben und dein Körper, also auch deine Entscheidung“, bemerkt they. Sunny stöhnt. „Ja, schon. Es ist nur so eine verdammt komplizierte Entscheidung. Wie hast du das nur hinbekommen?“ Sie hebt ihren Kopf und schaut Lulu an. Lulu legt den Kopf schräg. „Es hat sich einfach nicht richtig angefühlt. Deswegen habe ich damals abgetrieben. Es war keine wirkliche Entscheidung, sondern von Anfang an klar für mich“, erklärt they. Sunny kaut auf ihrer Unterlippe. „Tut mir leid, wenn das unsensibel ist, aber hast du es nie bereut?“, fragt sie. Lulu lächelt nachsichtig. „Nie. Es war einfach das Richtige für mich.“ Sunnys Stirn berührt wieder das Holz. „Für mich fühlt es sich aber nicht richtig an. Aber das Kind zu bekommen auch nicht. Nicht so.“ Lulu betrachtet sie nachdenklich. „Weißt du, warum es sich nicht richtig anfühlt?“ Sunny richtet sich auf und wischt sich über die Augen. „Ich weiß es nicht. Oder irgendwie doch. Es ist… Ich bin gerne mit Thomas zusammen. Er ist lustig, lieb und gibt sich Mühe. Aber… Er versteht mich so oft nicht oder vergisst Dinge. Immer bleibt alles an mir hängen. Ach, ich weiß auch nicht, vielleicht übertreibe ich auch.“
Lulu runzelt die Stirn. „Ich bezweifle, dass du übertreibst. Du solltest deinem Gefühl vertrauen. Was sagt Thomas denn zu deinen Überlegungen?“ Sunny beißt sich wieder auf die Lippen. „Ich habe ihm noch nicht erzählt, dass ich schwanger bin“, gesteht sie leise. Lulu schüttelt den Kopf. „Ich bleibe dabei. Du solltest auf dein Gefühl hören. Und es ist deine Entscheidung. Aber vielleicht hilft es mit Thomas zu reden.“ Sunny seufzt. „Ja... Ich weiß nur nicht, wie ich es ihm sagen soll. Hey, Thomas. Ich bin wirklich schwanger geworden, werde aber abtreiben, weil ich Angst vor der Zukunft mit dir habe.“ Sunny lacht gezwungen. „Du meine Güte, das klang ausgesprochen noch schlimmer.“
Sie atmet zitternd ein. Lulu steht auf und nimmt Sunny in die Arme. „Ja, das ist ein Scheißgefühl“, murmelt they in Sunnys Haare. „Nimm jetzt nicht zu sehr Rücksicht auf Thomas Gefühle. Sei einfach so ehrlich wie möglich mit ihm.“ - „Ich versuche es. Es ist nur so verdammt schwer“, schnieft Sunny. Lulu drückt sie fester. „Das Schwerste überhaupt. Ich spucke hier auch nur große Töne“, vertraut they Sunny an. Sunny löst sich aus der Umarmung und sieht ihre_n Freund_in vorwurfsvoll an. „Das war jetzt nicht gerade beruhigend.“ Lulu lacht erneut und setzt sich wieder. „Was wahr ist, muss wahr bleiben.“ Stille senkt sich über den Tisch. Grübelnd sitzen die beiden da. „Weißt du…“, beginnt Lulu schließlich. Im selben Augenblick sagt Sunny: „Ich glaube, ich gehe jetzt. Oh, du wolltest was sagen?“ Lulu winkt ab. „Nicht so wichtig“, murmelt they. Sunny ist schon aufgestanden. „Die Rechnung geht dieses Mal auf dich“, erinnert sie und wirft Lulu eine Kusshand zu. Lulu fängt den Kuss lächelnd auf.
„Ich will das Kind. Aber ja, es ist deine Entscheidung. Und du musst wissen, dass ich dich unterstütze, egal wie sie ausfällt.“ Natürlich muss Thomas das Ganze noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist. „Das ist lieb“, antwortet Sunny trotzdem. „Aber ich glaube… nein, ich weiß, dass ich dich erstmal eine Weile nicht mehr sehen will. Ich muss mir über einiges klar werden“, stößt sie hervor. Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Natürlich hat Sunny Thomas angerufen, statt ihn persönlich zu treffen. Sie schämt sich vor sich selber für ihre Feigheit. „Okay… alles, was dir hilft, Sonni. Ich liebe dich.“ Sunny nickt und legt auf. Zu spät fällt ihr ein, dass er ihre Kopfbewegung nicht sehen konnte und fühlt sich noch schlechter. Sie vergräbt sich zwischen den Kissen auf ihrem Sofa. Immer noch rinnt Regen an den Scheiben hinab. Eigentlich sollte sie ins Bett gehen, aber sie kann sich nicht aufraffen. Sunnys Hände ruhen leicht auf ihrem Bauch. Es ist unvorstellbar, dass darin etwas ist, das irgendwann ein Gesicht, eine eigene Persönlichkeit, ein eigenes Leben haben könnte. „Sicher, dass du das überhaupt willst?“, flüstert Sunny in den leeren Raum.
Plötzlich klingelt es. Sunny zuckt zusammen. Sie hofft, dass es nicht Thomas ist. Oder wartet sie genau auf so eine Geste? In einem Film stände er jetzt vor ihr und in der nächsten Szene hält er ihre Hand bei der Geburt… Sunny zwingt ihre Gedanken zum Stehen. Langsam geht sie zur Tür. Das Herz klopft ihr bis zum Hals. Sie späht durch den Spion und reißt die Tür auf. „Was machst du denn hier?“ Lulu steht im Treppenhaus. Ein paar nasse Haarsträhnen kleben im schmalen Gesicht und von der Kleidung tropft es auf den hässlichen Sisalteppich. They atmet schwer, als wäre they den ganzen Weg gerannt. „Ich muss dir was sagen. Und ich sollte es schnell tun.“ Sunny starrt ihre_n Freund_in an. „Komm doch erstmal rein!“ Sie will hinein, aber Lulu hält sie sanft am Arm fest. „Wirklich, ich muss es dir gleich sagen!“ Sunny hält inne und schaut Lulu fragend an. Lulu holt tief Luft. „Also. Es ist wie ich gesagt habe. Du solltest deinem Gefühl vertrauen und dir bewusst sein, dass es dein Leben ist. Aber ich wollte dir ein Angebot machen, das du im Kopf behalten kannst. Weil... ich bin ja auch noch da.“ Sunny blinzelt verwirrt. Erst versteht sie nicht. Aber dann hat sie das Gefühl, als wäre ein fehlendes Puzzleteil endlich am richtigen Ort gelandet. Lulu fährt sich unterdessen verlegen durch die Haare. „Naja, ich wollte damals kein Kind. Es gab nicht die richtige Person dafür in meinem Leben und ich wollte es nicht alleine durchziehen. Ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt jemals Kinder haben will, aber so seltsam das vielleicht erscheint, mit dir könnte ich es mir vorstellen. Ich kann verstehen, dass das überraschend kommt, aber ich wollte es dir gesagt haben. Familienmodelle sind variabel… verwandelbar. Eltern müssen sich nicht immer lieben. Also nicht, dass ich dich nicht liebe, aber es ist eine andere Art von Liebe. Und ich glaube, ich gehe jetzt besser, bevor ich noch mehr rede und alles noch merkwürdiger wird.“ Lulu wendet sich schon der Treppe zu, als Sunny them zurückhält. „Es ist nicht merkwürdig“, sagt sie. Lulu blinzelt. „Nicht?“ Sunny lächelt. „Ich brauche noch Bedenkzeit, aber gerade… es fühlt sich nach einer Option an. Vielleicht sogar nach der Besten.“ Lulu wirkt erleichtert. Sunny zieht them in die Wohnung. „Und jetzt zieh dir bitte was Trockenes an. Dann können wir noch…“
Die Tür fällt hinter den beiden zu. Im Treppenhaus wird an dieser Stelle ein kleiner Wasserfleck zurückbleiben. Er wird nicht die einzige Erinnerung an diesen Tag bleiben.