Allein

Wettbewerbsbeitrag von Luzie Sch., 14 Jahre

Etwas brach in mir, als er das sagte und ich war mir sicher, dass die Wunde, die die Scherben in mir hinterließen, für immer bleiben würden. „Das war ein Scherz, oder? Sag, dass das ein Scherz war!“ Ich wusste selbst, dass er mit so etwas keinen Spaß machen würde, nicht Kane. Und doch wollte ein Teil von mir nicht glauben, was er soeben gesagt hatte. Der Teil, der sich auch weigerte, etwas zu fühlen. „Kane! War das ein Scherz?“ Der Ausdruck in seinem traurigen Gesicht war Antwort genug und ich fühlte, wie ich versank. Versank in der brutalen Wahrheit.
Er stand vor mir, stand einfach da und schaute mir besorgt in die Augen. Ich war wütend ihn. Auf seinen Blick, dafür, dass er die Worte ausgesprochen hatte, meine Hoffnungen damit zerstörte, sie zu tausenden Splittern hatte zerspringen lassen. Noch weigerte ich mich, die Gedanken zuzulassen, doch sie wurden immer lauter in meinem Kopf, sodass sie nicht mehr zu überhören waren. Ich hatte niemanden mehr, meine leiblichen Eltern hatten mich verlassen. Mein Vater erst gerade, vor nur wenigen Stunden, meine Mutter hatte ich noch nichtmal richtig gekannt, doch das linderte den Schmerz nicht. Ich dachte, ich könnte sie wieder finden, dachte, sie würde auf mich warten. Warum hatte ich nichts gespürt? Sagte man nicht, man spürte, ob einem Geliebten etwas passieren würde? Doch vielleicht hatte ich das. Diese mit Wärme gefüllte Leere, die ich gespürt hatte. War das das Gefühl gewesen? Meine Beine gaben unter mir nach, ich drohte zu stürzen und ich machte mich für den Aufprall bereit, doch zwei starke Arme packten mich und zwangen mich wieder auf die Füße. „Audrey…“ Er nahm mein Gesicht in seine Hände und hob meinen Kopf, trat einen großen Schritt vor, sodass er dicht vor mir stand. In seinen Augen schimmerte es. „Es tut mir wirklich unglaublich leid. Und ich weiß, dass es schrecklich ist, aber ich wollte, dass du die Wahrheit weißt. Es tut mir leid.“ Das sollten tröstende Worte sein, doch es half nicht.

Ich war allein. Meine Blutsfamilie war weg, weit weg. Ich zog meinen Kopf aus seinen Händen und sah weg, ich konnte seinen traurigen Anblick nicht länger ertragen.

Ich war allein. Aber allein war man am stärksten, oder? Ich musste stark sein. Ich biss die Zähne zusammen. Kane sah das, denn er zog mich in eine Umarmung, die nach Minze und Pfingstrose roch. Einen Moment war ich versucht, mich ihr hinzugeben, doch das würde das Brennen hinter meinen Augen nur noch mehr befeuern. Ich versuchte, mich von ihm loszumachen, doch er hielt mich ganz fest, drückte mich gegen sich und da gab ich es auf. Ich ließ mich gegen ihn sinken und legte meinen Kopf an seine Schulter, spürte, wie die Tränen meine Wangen hinabliefen und meine Schultern bebten. Das Loch in meiner Brust drückte sich noch mehr gegen mich, zerrte an meinen Eingeweiden, bis mir schlecht wurde.

Keine Mutter, kein Vater. Und am Tod von ihm war ich schuld. Ich. Weil ich… da war. Er hatte sein Leben für mich geopfert. Hatte seine Liebe zu mir bewiesen, als es zu spät war. Er war tot. Lag nun in den Armen meiner Mutter. Auch sie hatte er geliebt. Wenigstens waren sie jetzt zusammen. Wenigstens sie. Ich schniefte in den Pulli von Kane hinein, der schon ganz nass von meinen überflüssigen Tränen war. Wieso riss es mich überhaupt so auseinander? Ich meine, ich kannte keinen von beiden wirklich gut. Weil es deine Eltern sind!, sagte eine leise Stimme hinten in meinem Kopf. Und sie hatte Recht.

Ich wusste nicht, wie lange wir so dastanden, aber es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit. Vielleicht war es das auch. Ich schluchzte und spürte, wie sehr meine Lunge mittlerweile brannte. „Audrey.“ Kanes Stimme klang rau, sie triefte nur so von Mitgefühl. Ich hob meinen Kopf, um ihn mit gläsernen Augen anzusehen. Es dauerte einige Momente, bis er weiterredete. Jedenfalls setzte er dazu an. Dann schloss er seinen hübschen Mund wieder und strich mir stattdessen über die Wange, fing die Tränen auf und drückte mich noch einmal ganz fest an sich, bevor er mich losließ. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Dieser plötzliche Abstand kam mir weitaus mehr vor als nur ein Meter und sofort fehlte mir seine Wärme. Anna trat neben mich und nahm meine Hand in ihre kleinere. Sie schaute mich von der Seite an, da entdeckte ich ein Glitzern in ihren grauen Augen. „Leute, hört auf zu weinen“, wollte ich sagen, doch heraus kam nur ein Krächzen. Es brachte nichts, zu weinen, das würde nichts ändern. Absolut Garnichts.

Nicht, dass mein Vater tot war.
Nicht, dass meine Mutter tot war.
Nicht, dass ich ein tiefes Loch aus Schmerz in meiner Brust hatte.
Ich musste mich zusammenreißen, um mich wieder aufrecht hinzustellen, die Schultern durchzudrücken und die Tränen wegzuwischen. Die Augen geschlossen, atmete ich frische Luft ein und schob alle verzweifelten Gedanken so weit weg wie möglich.
Ich hatte Anna. Ich hatte meine Adoptivmutter und -vater. Und ich hatte Kane.
Ich war ganz und gar nicht allein.
Ich hatte mich nur allein gefühlt. Es standen zwar nicht viele Menschen hinter mir, aber das war nicht nötig. Es standen die hinter mir, die mir viel bedeuteten.


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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Luzie Sch., 14 Jahre