Ilira, 6.Juli 2022, 23:53
Meine Tochter, mein Schwiegersohn und ich haben einen Entschluss gefasst und mir wurde die Aufgabe übertragen, es den Kindern zu erzählen. Meinen Enkelkindern. Ich sitze auf dem einzigen Sessel in meinem Zimmer und versuche mich auf mein Buch zu konzentrieren. Das ist schwer, wenn man die heile Welt seiner Enkelkinder in weniger als zwölf Stunden zunichte machen muss. Ich kriege allein schon Bauchweh, wenn ich nur daran denke, wie Samira, Sera und Ellouis auf die Nachricht reagieren werden. Nachdem ich noch eine Weile grübelte, beschloss ich meine Kerze auszublasen – meine Tochter würde einen Tobsuchtsanfall kriegen, wenn sie wüsste, dass ich um diese Zeit noch eine ihrer kostbaren Kerzen niederbrennen lasse – und ins Bett zu gehen. Es war schon spät und unser Zuhause wurde von bleierner Stille erfüllt. Als ich schließlich im Bett lag und nachdachte, wurde die Stille von einem lauten Knall, Schreien und brodelden Flammen, die vor den Fenstern aufstiegen, durchbrochen. Noch ein Grund mehr unsere Heimat zu verlassen, war mein letzter Gedanke bevor ich in einen unruhigen Schlaf fiel.
*Amerita, 7.Juli 2022, 7:29*
Schon früh am Morgen lief ich wie eine Verrückte durch die kleine Wohnung und versuchte nur die Sachen einzupacken, die auch wirklich wichtig sind. Ich wälzte alle Sachen mindestens noch drei Mal durch, doch als ich am Ende die Kinder wecken gehen wollte, passten noch immer nicht alle in meinen Rucksack. „Mama! Hunger!“, hörte ich meine kleinste Tochter da auch schon rufen. Sera ist normalerweise immer am frühesten aus unserer Familie auf den Beinen und weckt dann alle. Ich ging in das Zimmer von Sera und Ellouis, um auch meinen Sohn zu wecken, aber der war auch schon gerade dabei seine Decke zurückzuwälzen und sich auf den Weg in die Küche zu machen. Sanft klopfte ich am Nebenzimmer meiner älteren Tochter, die normalerweise Langschläferin ist, doch auch sie war überraschenderweise schon auf den Beinen. Als dann schließlich die ganze Familie – sprich mein Mann, meine Mutter, meine drei Kinder und ich – am Küchentisch saßen – was übrigens ganz schön eng werden kann – gab ich Ilira ein Zeichen und sie begann zu reden: „Also Kinder, eure Eltern und ich haben uns lange unterhalten und haben einen Entschluss gefasst. Wie ihr wahrscheinlich wisst, haben wir es hier nicht leicht und deswegen haben wir beschlossen, uns einen anderen Ort zu suchen, an dem wir ein neues, besseres Leben beginnen können.“ Ein paar Momente lang saßen wir alle schweigend am Tisch, was normalerweise äußerst selten vorkommt. Dann begannen alle wild durcheinander zu reden und Sachen zu packen.
*Philip, 7.Juli 2022, 13:13*
Jeder in der Nachbarschaft wusste, dass in der Wohnung von einem älteren jüdischen Ehepaar ein Feuer gelegt wurde. Gestern Nacht, als alles schlief, hatten sich ein paar rechtsextreme Terroristen hinein geschlichen, um noch mehr Grauen zu schaffen als es ohnehin schon in der Welt gab. Die Entscheidung zu fliehen war uns nicht leicht gefallen, aber das hatte uns den Rest gegeben. Wir waren zu Fuß zum Flughafen von Dhaka gegangen und nach dem anstrengenden Check-in hatten wir uns mit unserem wenigen Gepäck auf die vierzehnstündige Reise begeben. Wir hatten nur genug Geld gehabt, um Flugtickets nach Kabul in Afghanistan zu kaufen. Von dort aus würden wir wahrscheinlich zu Fuß gehen müssen.
*Samira, 8.Juli 2022, 8:39*
Es war eine lange Nacht gewesen. Um 1:53 in der Nacht, waren wir aus dem Flugzeug gestiegen und danach hatten wir die Nacht in der Wartehalle des Flughafens in Kabul verbracht, in der aufgrund der Machtübernahme der Taliban komplettes Chaos herrschte. Schreiende Frauen, weinende Kinder, Männer mit angsterfüllten Gesichtsausdrücken, die verrieten wie sehr sie Angst um ihre Familie hatten. Die Welt dieser Leute war zusammengebrochen. Genauso wie unsere. Sie waren auf der Flucht. Genauso wie wir.
*Ben, 8.Juli 2022, 10:48*
Ich arbeite schon beim Zoll im Flughafen, seit ich denken kann. Ich komme ursprünglich aus Deutschland, aber vor einigen Jahren wurde mir ein gutes Jobangebot am Flughafen in Kabul gemacht und da ich keine Familie mehr in meinem Heimatsstaat hatte, nahm ich es sofort an. Ich hatte in meinem Leben schon viele interessante Leute kennengelernt, doch die Familie, die ich heute kontrollierte, war anders. Der Vater, Philip, kam ursprünglich auch aus Deutschland, doch er war mit seiner Familie vor längerer Zeit nach Bangladesch gezogen. Jetzt war er mit seiner Frau Amerita, seiner Schwiegermutter Ilira und seinen drei Kindern Samira, Ellouis und Sera, die alle fünf in Bangladesch geboren waren auf der Flucht nach Europa. Wir wechselten ein paar Worte und ich sagte ihnen, dass ich einen Freund hätte, der sie ein Stück mit seinem LKW mitnehmen könnte. Sie sahen sehr erleichtert aus, da sie zu wenig Geld für sechs weitere Flugkarten hatten und mein Angebot die Familie wesentlich weniger Geld kosten würde.
*Philip, 10. Juli 2022, 5:58*
Zwei Tage waren wir nun schon auf dem Weg, fast 35 Stunden waren wir nun schon mit dem LKW unterwegs. Wir hatten beinahe keine Pausen gemacht, um so schnell wie möglich an unser Ziel zu gelangen. Zum Glück würden wir bald in Teheran ankommen. Von dort aus mussten wir den Weg zu Fuß antreten. Unser Plan war von Teheran nach Iskenderun, einer Hafenstadt in der Türkei, zu Fuß zu gehen. Als wir dann endlich aus dem LKW ausstiegen, stand uns der wirklich schwierige Teil unseres Weges bevor. Alles wurde noch schwieriger, als Ilira stürzte und sich schwer verletzte. Sie wurde in Teheran ins Krankenhaus gebracht und wir beschlossen, sie von dort abholen zu lassen, sobald wir wieder genug Geld hätten.
*Samira, 15. August 2022, 15:26*
Wir waren nach dem langen und sehr beschwehrlichen Weg nach Iskenderun endlich auf ein Boot mit anderen Flüchtlingen gestiegen. Um genug Geld für die Überfahrt nach Athen zu haben, mussten meine Eltern ihre Eheringe verkaufen, was ein herber Schlag für uns alle war. Als wir Athen erreicht hatten, mussten wir von dort aus weiter zu Fuß nach Vlora, einer albanischen Hafenstadt. Nach unserer Überfahrt, sind wir jetzt schon einen Tag Richtung Vlora unterwegs.
Pescara, 30.August 2022
Liebe Ilira!
Am 22. August sind wir endlich in Vlora angekommen. Gott sei Dank hat das Geld, das wir mit dem Verkauf der Eheringe eingenommen haben, für eine Fahrt nach Pescara, einer italienischen Hafenstadt, gereicht. Dort sind wir vor einer Woche angekommen. Die Schwester meines Mannes lebt dort und wir können vorerst bei ihr leben. Die Kinder sind schon für die Schule oder den Kindergarten angemeldet und mein Mann hat nach ein bisschen Internetreche sogar einen Aushilfsjob gefunden. Es sieht so aus als, ob wir diese Krise bewältigt hätten und bald wieder auf eigenen Beinen stehen können. Ich hoffe wir finden bald eine hübsche Wohnung.
Wir holen dich so bald wie möglich ab,
Amerita, Philip, Samira, Sera, Ellouis