Qualm

Wettbewerbsbeitrag von Jayvelyn Kloss, 12 Jahre

Ein schrilles Klingeln, welches das ganze Haus füllte, trällerte im unteren Stock herum. Das Klingeln des Telefons dröhnte mir so stark in den Ohren, dass ich meine Beine mit schlürfenden Schritten nach unten zwang und mir einen Weg zum Hörer bahnte. Sogleich ertönte ein weiterer Klang: „Ich mach das schon, Elise!“ Die raue und krächzende Stimme gehörte meinem Vater. Jedoch ignorierte ich ihn mit einem entnervten Aufseufzen und  griff nach dem Telefon, welches vibrierend und dröhnend auf dem Telefontisch lag. „Ah, da sind Sie ja, Herr Schmidt!“ hörte ich eine mechanische Stimme, die aus dem Telefon stammte: „Leider ist das Stadium des Lungenkrebses vorangeschritten. Dolores Schmidt ist gestern um 23:27 Uhr verstorben. Wir konnten nichts mehr für sie tun.“ Wie betäubt stand ich auf meinen wackeligen Beinen. Beinahe wäre mir der Hörer aus der Hand gefallen, so entsetzt war ich. Dolores Schmidt war die Mutter meines Vaters und gleichzeitig auch meine Oma. Ich holte mit meiner Hand aus und schlug mit voller Wucht auf das Telefon ein. Es fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden und blieb dröhnend liegen. Tränen der Wut und Trauer rollten mir unbarmherzig über die heißen Wangen. Ich wollte das grässlich dröhnende Telefon zur Seite kicken, jedoch wurde ich von einer krächzenden Stimme abgehalten: „Elise.“ Begann mein Vater. „Komm zu mir.“ Ich drehte mich krampfhaft um und starrte ihm in die einst vor Abenteuerlust, Fröhlichkeit und Humor  glitzernden grauen Augen. Jetzt waren sie getrübt von dem ganzen Rauch den er täglich einatmete. „Warum hast du mir nie gesagt, dass sie Krebs hat?“ brüllte ich so laut, dass die Bilderrahmen an der Wand gefährlich zu schwanken begannen. Mein Vater wollte gerade ein paar Wörter aus seinem Mund herauszerren, jedoch schluckte er diese wieder herunter. „Elise-“ versuchte er mich zu beruhigen, doch ich stürmte mit einem lauten, verzweifelten Schluchzen an ihm vorbei in mein Zimmer. Ich warf mich aufs Bett und dachte sehnsüchtig an meine Oma. Meine Oma war für mich wie eine Freundin gewesen. Ich konnte jeden Tag zu ihr, um schlechte Gedanken loszuwerden, denn mein Vater war ein Kettenraucher. Er rauchte jeden Tag endlos viele Zigaretten, der Rauch vernebelte ihm meist die Sinne, sodass er ab und zu auf mich losging, mich anschnauzte oder einfach doof schaute. Früher war das nicht so. Er war ein wirklich toller Vater. Voller Energie und Fröhlichkeit! Doch als meine Mutter vor vier Jahren einen so schweren Unfall erlitt, sodass sie in ein Koma verfiel, verwandelte sich sein großes, helles Herz in einen verschrumpelten, grauen Zellklumpen. Zweimal in der Woche hockte er vor dem dürren, blassen und knochigen Geschöpf, dass einst meine Mutter gewesen ist, ich wusste nicht warum oder wozu, denn es schien ihm danach immer schlechter zu gehen. Nun hatte ich keinen einzigen Ort, an den ich mich wohl fühlen werde. Für immer würde ich wohl bei meinem schrecklichen Vater bleiben, bis mein Herz ebenfalls zu einem verschrumpelten, grauen Zellklumpen wurde. Ich seufzte lange, sogleich mischte sich ein kleines Schluchzen in meine brüchige Stimme. Wer auch immer da oben die Erde regiert, ganz gleich ob Gott oder Wissenschaft; Warum tust du mir das an? Ein Vater der süchtig nach müffelndem Rauch ist, eine Mutter die seit Jahren im Koma liegt und eine verstorbene Oma! Drei Krisen gegen eine hilflose Person. Das ist sowas von unfair! Ich trat gegen eine kleine Kiste, die mit einem knirschenden Geräusch ein wenig nach rechts schoss. Ich hob sie hoch und legte sie auf meinen Schoß. In der Kiste waren hunderte Zigaretten enthalten, die ich meinem Vater jedes Mal klaute, damit er nicht so viel rauchte. Ob dies half oder nicht, wusste ich selbst nicht. Nun schob ich die Kiste seufzend unter mein Bett und warf mein Gesicht wimmernd in mein federweiches Kissen. Die samtigen Fasern schmiegten sich an meine Haut, wodurch ich langsam in einen unruhigen, traumlosen Schlaf verfiel.

Ein schrilles, dröhnendes Geräusch weckte mich am nächsten Morgen. Der Wecker klingelte erbarmungslos auf meinem Nachttisch, wodurch dieser stark zu vibrieren begann. Mit einem kraftlosen Seufzer schlug ich auf die Schlummertaste. Ein kleiner, stechender Schmerz schoss durch meine Hand, der durch meine Müdigkeit verringert wurde. Ich schob mich aus dem Bett, schlüpfte in frische Klamotten und ging die Treppe hinunter. Ich tappte grummelnd zur Küche, schnappte mir zwei Toastbrotscheiben, die ich beide mit Butter bestrich und setzte mich an den Esstisch. Vater führte gerade eine Zigarette zum Munde, er sog den stinkenden Rauch in seine beschädigte Lunge, bis der Qualm aus Mund und Nase wieder herauskam. Heißer Qualm stach in meiner Nase und legte sich schwer auf meiner Zunge, sodass ich nur mit Mühe einen Würger unterdrücken konnte. Ich erhob mich ohne ein Wort und wollte nun nach draußen gehen, da ich noch Zeitungen austragen musste.
Ich lief an einer Kommode vorbei, auf der eine Packung Zigaretten ruhten. Ich griff danach. „Elise?“ fauchte mein Vater zornig. „Was?“ Ich setzte eine unschuldige Miene auf und ließ die Packung hinter meinem Rücken verschwinden. „Gib das sofort zurück!“ schnauzte er, seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Ich schüttelte den Kopf. Plötzlich stand er auf, das Küchenmesser hoch erhoben. Seine trüben Augen glitzerten vor Wut. Er torkelte langsam zu mir, bis ich mit eiligen Schritten nach oben in mein Zimmer rannte. Mein Vater rannte mir mit schweren Schritten nach. Ich schloss mich in mein Zimmer ein, mein Herz hämmerte hart gegen meinen Brustkorb, sodass ich mich fragte, wie stabil so ein Stück Knochen sein kann. Mein Vater schlug und trat gegen die Tür, ich hörte wie er das Messer an die Tür hielt und diese mit heftigen Hieben zu zerschlitzen zu versuchte. Ich presste meine Augen vor Angst zusammen, Tränen strömten mir über meine Wangen. „Komm raus, du dummes Kind!“ brüllte er und hämmerte gegen die Tür. Ich erhob mich zitternd auf meine Beine, griff nach meinem Handy und wählte den Notruf. Ich erzählte der Polizei alle Einzelheiten, also wo ich war, wer anwesend ist und was passiert. Sogleich ertönten auch Sirenen. Die Polizei stürmte das Haus, legte meinem Vater Handschellen an und brachten ihn danach in ein Krankenhaus, wo er sich dann entschloss, von der Sucht abzukommen. Ich wurde anschließend in ein Heim geschickt, wo mich alle herzlich willkommen hießen. Irgendwann würde mich mein Vater vielleicht wieder abholen, wenn er seine Sucht bekämpft hat. Solange werde ich auch meine Wochen im Heim verbringen, jedoch war dies viel besser als bei einem süchtigen Vater zu leben. Endlich konnte ich wieder Sachen machen, die mir Spaß machten, ohne mich um meinen Vater zu sorgen.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Jayvelyn Kloss, 12 Jahre