Livs Tagebuch
Ich bewundere die Lebendigkeit ihrer Seele. Sie hat einen Glanz in den Augen und wenn sie spricht, höre ich ihr gerne zu. Ich habe noch nie einen Menschen wie Talia kennengelernt, der so sehr im Hier und Jetzt lebt. Ich fühle mich oft eher wie ein Kloß Trauer, der ständig irgendwo stecken bleibt. Sei es in der Vergangenheit oder in all den „Was wäre wenn“s. Meine Mutter sagt, ich hänge mit dem Kopf in den Wolken und träume zu viel. Ich weiß nie so richtig, wohin ich meinen Blick wenden soll, wenn Talia mit mir spricht. Ihr Blick ist zu intensiv. Wenn sie mir in die Augen schaut, fühle ich mich verwundbar. Obwohl ich zutiefst an das Gute im Menschen glaube, habe ich dieses Vertrauen einfach nicht, jemanden so nah an mich heran zu lassen. Manche indigene Kulturen glauben, dass man durch die Augen in die Seele eines Menschen schauen kann. Ich glaube das auch. In meine Seele darf niemand schauen. Was soll die Person denn dort sehen? Ein einziges Chaos aus schwarzem Schlamm, ein verwundetes Kind, das sich seinen Weg bahnt und hilflose Schreie von sich gibt, die in der endlosen Weite verhallen. Einen Salzsee, einst gefüllt mit Tränen, die mein hitziger Charakter hat verdunsten lassen. In all dem schwebt ein undefinierbarer Klang, der schon immer da war und immer da sein wird. Aber dessen Schönheit nun wirklich Geschmackssache ist. Ja. So oder so ähnlich müsste der Anblick sein, den man präsentiert bekommt, wenn man in meine Augen schaut. Deshalb schaue ich weg. Aber wenn ich in ihre Augen schauen möchte… dann schaut sie in meine. Anders geht es nicht.
Die Begegnung
Talia wunderte sich, dass Liv immer nur wegschaute. Schon so oft hatte sie versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Sie spürte eine Anziehung, die sie nicht begreifen konnte. Einerseits hatte sie das Bedürfnis, sie vor den Brutalitäten der Welt zu beschützen. Andererseits hatte sie das Gefühl, dass Liv diesen Schutz nicht benötigte, weil sie in sich eine unfassbare Kraft hatte. Doch diese Kraft war so stark, sie schoss ihr in den Kopf und pulsierte dort durch ihre Adern. Das wusste Talia nicht. Liv war gut darin geworden, ihren Schmerz zu verbergen.
Talia erzählte ihr von all den schönen Dingen, die sie erlebt hatte. Sie war wirklich begeistert von den Rehen, die sie im Wald gesehen hatte. Diese Begeisterung steckte Liv an und begann, sich zu entspannen. Sie traute sich, Talia in die Augen zu sehen. In diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges.
Zwischen ihren Pupillen bildete sich eine Brücke. Aus welchem Material genau sie war, vermochte niemand zu sagen. War es Licht? War es Wasser? Oder eine Mischung aus beidem? Die Verbindung war stark und intensiv. Es kostete sie beide viel Mut, sie nicht zu unterbrechen. Aus Livs Auge kletterte ein kleines Kind heraus. Eine Liv im Miniaturformat. Sie war kaum größer als ein Fingernagel und balancierte auf der Brücke zwischen ihren Augen. Nun kam auch aus Talias Pupille eine kleine Figur heraus. Die beiden sahen sich an. Das Licht umschloss sie, wie eine durchsichtige Röhre. Die beiden Kinder waren verwirrt. Sie hatten ihre gewohnte Umgebung verlassen. Mini-Liv begann, zur Beruhigung ein Lied zu singen. „Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?“ Da sie so klein war, war es sehr leise. Doch Liv hatte sehr gute Ohren und konnte das ganz genau wahrnehmen.
Plötzlich knallte der Deckel des Flügels, der in der Ecke stand, herunter. Erschrocken schauten die beiden dorthin. Die Verbindung war unterbrochen und ihre Miniaturversionen verschwanden wieder in ihrem Inneren.
Wie war das möglich? Es war niemand in der Nähe, der den Flügel hätte berühren können.
Berührt von dem Lied - das ihre Kindesversion gesungen hatte, ging Liv auf den Flügel zu und drückte behutsam eine Taste hinunter. Früher hatte sie Klavier gespielt, das hatte sie schon ewig nicht mehr getan. Zögernd drückte sie das Pedal herunter und spielte ein paar Töne, die einen traurigen, aber schönen Gesamtklang ergaben. Die graue Wolke in ihrem Kopf wurde immer klarer und gab den Blick auf eine schöne Berglandschaft frei.
Talia begann, zu Livs Musik zu tanzen. Jede Melodie war ein Versuch der Kommunikation. Liv fühlte sich noch unsicher, wieder am Klavier zu sitzen. Langsam verebbte die Melodie und der graue Nebel kehrte in ihren Kopf zurück. „Danke, das war wunderschön“, sagte Talia, trat hinter sie und umarmte sie sanft. Liv wusste nicht, wie ihr geschah. Talia so nah zu spüren war wunderbar. Sie spürte, wie ihr Herz heftig klopfte. So viel Nähe und dann auch noch von einem Menschen, den sie so anziehend fand. Erschrocken über das, was gerade in ihr passierte sprang sie auf. Das durfte nicht sein. Nein, nein. Das war nicht sie. Nicht mit einem Mädchen. Übelkeit stieg in ihr hoch.
Livs Tagebuch
War das der Preis dafür, dass ich mich auf etwas Neues, Intensives eingelassen habe? Kotzen in den Mülleimer? Mein Nervensystem kann auch nur so viel ertragen. Aber was ist das schönere Leben? Eins mit besonderen Momenten und dafür in Kauf nehmen, dass es mir manchmal sehr schlecht geht? Oder immer in der grauen Wolke leben? Ich glaube, ich entscheide mich für das Risiko. Verbindung mit Menschen ist wichtig. Ich lasse mein inneres Kind über die Brücke gehen. Ich lasse es singen. Und wenn sie mich berührt. Dann darf ich mich freuen. Ich spüre wieder ein Gefühl.
Sie legte den Stift weg und schaute aus dem Fenster. Durch die Regenwolken kamen ein paar Sonnenstrahlen und es entstand ein schüchterner Regenbogen. Für einen kurzen Moment glaubte sie, ihr Miniatur-Ich darauf tanzen zu sehen.