Dein Blick wandert in Richtung Himmel. Noch vor kurzem hatte der Sonnenuntergang dort nur dunkles Grau zurückgelassen. Durchzogen von blassen Strukturen einiger einsamer Wolken, die langsam ihrem Weg folgten. Nicht wissend, wohin oder warum sie unterwegs waren. Dir geht es ähnlich. Auch du musst dich fragen, was du hier tust. Irgendwo in deinem Inneren spürst du dieses Drängen. Aufzustehen, dich endlich zu bewegen, doch dein Körper wiegt zu schwer, um sich zu rühren. Schwer wie Blei. Der Himmel über dir verschwimmt leicht, während das brennende Rot durch schwarze Schatten verdeckt wird. Flackernd, wabernd, für einen Augenblick.
Der Boden unter dir fühlt sich eiskalt an. Deine Hand zuckt leicht – kühles, feuchtes Gras unter deinen Fingern. Hitze strömt über dir hinweg. Wie der heiße Atemzug eines riesigen Monsters. In einiger Entfernung hörst du Schreie. Verzweifelt laut und doch fast verschluckt vom lauten Knacken und Zischen des Feuers. Du blinzelst. Einmal. Zweimal. Und deine Gedanken werden klarer. Für einen Augenblick. Panik schießt durch jeden Muskel deines Körpers und dennoch regt sich nichts an dir. In deinem Kopf dreht sich alles, dir wird schlecht und ein erstickter Laut kommt dir über die Lippen.
Reiß dich zusammen!
Eine Stimme, durchdringend und doch körperlos. Gerade noch da und schon wieder verschwunden. Verstummt und vergessen, als dein Bewusstsein weiter in Schwärze versinkt. Bilder flackern unstet vor dir auf. Leuchtende Augen und entferntes Kinderlachen. Du hast sie gesehen, vor kurzem erst. Diese Augen voller Leben und voller Freude. So gegensätzlich zu den deinen. Der letzte Funke verblassend, dunkel und ohne Hoffnung.
Lissa, geistert ein Wort durch deine Gedanken. Nein, kein Wort. Ein Name. Ein Name, der dir die Welt bedeutet hat. Mehr als das, er war alles für dich. Dieses wundervolle Lächeln. Die leuchtenden Augen der Frau, die du über alles geliebt hast. Und die dir auf so grausame Weise genommen wurde. Vermutlich hättest du das Auto aufhalten können, bevor es sie mit sich riss. Doch du warst nicht da. Es ist nicht deine Schuld gewesen, aber du fühlst dich schrecklich. Noch immer, nach all den Jahren.
Das Leuchten in diesen Augen erinnert dich an sie. Auch ihre hatten immer so wundervoll gestrahlt, wenn du ihr auch nur zugelächelt hast. Eine Berührung, ein Kuss und immer dieses Strahlen, das dein Herz erwärmt hat. Nun allerdings ist es kalt geworden und schlägt schwer vor Trauer. Diese Wärme fehlt dir. Sie fehlt dir so sehr. Eine Träne löst sich aus deinem Augenwinkel, rinnt zögernd über deine Wange hinab. Du ächzt leise, als deine andere Hand leicht zuckt. Deine Finger haben sich fester um die kühlen Halme geschlossen. Ein Blumenstrauß, du erinnerst dich. Du warst auf dem Weg zum Friedhof, wie jeden Tag. Um Blumen auf ihr Grab zu legen, wie jeden Abend. Und um dort zu verweilen, voller Trauer, wie jede Nacht. Sie hatte dich immer ihren Schutzengel genannt und dabei gelächelt. Voller Liebe und voller Glück. Nun ist das einzige, was du noch tun kannst, Wächter an ihrem Grab zu sein. Ein Schutzengel, der versagt hat. Dem anstatt der strahlenden weißen Flügel nur noch dunkle Schwingen der Trauer geblieben waren.
Du bist über die Straße gegangen. Eine Familie mit zwei Kindern war neben der Ampel stehen geblieben, um einem Feuerwerk zuzuschauen. Hoch über den Dächern der Stadt. Ein lautes Krachen hatte es in deinen Ohren klingeln lassen. Eine Druckwelle warf dich zur Seite, über den Gehweg hinweg auf ein Stück Rasen. Hier liegst du nun noch immer, das Zeitgefühl längst verloren. Langsam drehst du den Kopf etwas auf die Seite. Eine Straßenlaterne wirft ihr flackerndes Licht auf ein Auto. Es liegt auf der Seite und aus dem Motorraum dringt Qualm nach außen. Das kalte Licht wird vom Boden reflektiert und gebrochen. Eine schimmernde Spur zieht sich vom Rasen hinüber zum Gehweg.
Dort siehst du zwei Gestalten kauern. Die Arme eng umeinander geschlungen, halb verdeckt von Rauchschwaden. Das Feuer knackt und ein Krachen lässt dich leicht zucken, als eine weitere Explosion die Nacht erschüttert. Eine Ampel gibt dem Druck und der Hitze nach, knickt zur Seite ab und neigt sich brennend dem Boden zu. Beinahe magisch angezogen von der schimmernden Spur auf dem Gehweg. Benzin, schießt es dir durch den Kopf, und wieder wallt Panik in dir auf. Das schmale Rinnsal bewegt sich immer weiter, unnachgiebig und unaufhaltbar. Der Rauch wird dichter, die schimmernde Spur länger. Sie bewegt sich direkt auf die Kinder zu.
Reiß dich zusammen!
Endlich rührt sich dein Körper und ächzend stemmst du dich hoch. Deine Kleidung hängt in halb verbrannten Fetzen von deinem Körper. Der Rauch erschwert dir das Atmen und deine Augen tränen, als du einen schwerfälligen Schritt in Richtung der zwei Gestalten machst. Die Flammen arbeiten sich krachend vor, einige Funken sprühen, als die Ampel sich ein weiteres Stück absenkt. Dir bleibt nicht viel Zeit. Du musst sie schützen, um jeden Preis. Fast verlierst du das Gleichgewicht, als die Erde wieder bebt. Mit einem metallischen Ächzen gibt die Ampel nach. Du siehst sie fallen. Direkt in Richtung der schimmernden Spur, welche die Kinder längst erreicht hat. Es ist zu spät.
Gib nicht auf!
Du nimmst einen tiefen Atemzug. Noch zögerlich sammelt sich deine letzte Kraft, verdichtet zu einem unscheinbar leuchtenden Punkt. Dann gibst du sie frei und gleich einer explodierenden Druckwelle schießt die Magie durch deinen Körper. Durchströmt jeden deiner Muskeln und lässt dir Flügel wachsen, von denen du gedacht hattest, du würdest sie nie wiedersehen. Ein gebrochener Engel mit gebrochenem Herzen und dennoch ungebrochenem Willen, zu helfen. Lissa hätte es so gewollt. Dieser Gedanke gibt dir Kraft und dein Körper spannt sich an. Er lässt dich mit einem kräftigen Flügelschlag nach vorn stürzen, hinein in das Flammenmeer.
Der Blumenstrauß fällt hinunter auf den glühenden Asphalt und im letzten Moment greifen deine Hände nach den Kindern. Mit einigen hastigen Flügelschlägen entkommst du den hungrigen Flammen. Hustend klammern sich die beiden an dir fest und du atmest tief durch. Dein Körper zittert unter der Anstrengung und jeder Muskel in dir brennt. Langsam lässt du dich abseits von Flammen und Rauch sinken. Deine Knie geben fast nach, als du wieder festen Boden unter den Füßen spürst. Dennoch reißt du dich zusammen. Vorsichtig setzt du die beiden Kinder auf dem sicheren Gehweg ab und schwingst dich wieder zurück in die Luft. Es ist deine Aufgabe, über die Menschen zu wachen. Einzuschreiten, wenn es nötig ist und jene zu retten, die sich nicht selbst helfen können. Vielleicht hast du das aus den Augen verloren. Lissa hat dir gezeigt, wie wertvoll das Leben ist. Es war der Wunsch in dir, Leben zu retten, der euch zusammengeführt hat. Dieser Wille ist nicht mit ihr gegangen. Du würdest ihn, zusammen mit den Gedanken an Lissa, weiter in deinem Herzen tragen. Ganz egal, wie viele Jahrtausende noch vor dir liegen.
Ich liebe dich und ich bin so stolz auf dich, mein Engel.