Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.
Ja, die Gedanken sind frei. Ziemlich frei sogar.
Manchen Menschen auf der Welt wäre es wahrscheinlich ganz lieb, Gedanken wären etwas kontrollierbarer. Putin zum Beispiel. Xi Jinping. Und mir.
Natürlich möchte ich mich ungern in eine Reihe mit diesen salauds (französisches Schimpfwort, schaut es nach, es wird euch gefallen) stellen, aber ich kann mir vorstellen, dass es ihnen genau wie mir gefallen würde, wenn ab und zu ein Jäger kommen würde und auf ein paar Gedanken von ein paar Personen schießt.
In meinem Fall wären das dann meine eigenen Gedanken.
Vor fünf Jahren habe ich meine erste Kurzgeschichte geschrieben. Sie hieß Gedankenkarussell und wurde in einem Literaturmagazin veröffentlicht. Ich war damals siebzehn und musste mir von der Seele schreiben, wie sich meine Gedanken manchmal für mich anfühlen: wie ein riesiges Karussell, das sich viel zu schnell dreht und mich mit sich schleudert, ohne, dass ich etwas dagegen tun kann. Die Geschichte hat kein Happy End. Die Geschichte endet damit, dass es mich furchtbar aufregt, wenn Menschen zu mir sagen, ich solle weniger nachdenken. Denn das konnte ich noch nie.
Was ich damals nicht wusste: Gedanken sind verwandelbar.
Ich habe in Gedankenkarussell viel darüber geschrieben, was andere Menschen mit meinem Gedankenkarussell zu tun haben. Ich wusste nicht, dass es nur eine einzige Person gibt, die es anhalten kann, und das bin ich selbst. Und deswegen hat niemand es angehalten. Es hat sich fünf Jahre lang weitergedreht und mich mitgeschleudert.
Gedanken sind verwandelbar und sie haben sich in den letzten fünf Jahren in ein immer morastigeres Dickicht verwandelt. Ein Dschungel, in den ich immer weiter hineingelaufen bin, anstatt jemanden, der wirklich Ahnung hat, nach Hilfe zu fragen.
Die anstrengendsten Gedanken sind am lautesten, wenn alles andere am leisesten ist. Aber sie kleben auch in meinem Hinterkopf, wenn alles um mich herum laut und trubelig ist, wenn ich mich auf etwas Wichtiges konzentrieren oder etwas Schönes genießen will. Auch dann sind sie da, wie ein fades Kaugummi, das man sich an den Gaumen geklebt hat, weil es längst nicht mehr schmeckt, aber man noch keine Gelegenheit hatte, es loszuwerden. Meine Gedanken sind dieses Kaugummi. Nein, eigentlich noch schlimmer: Meine Gedanken sind Kaugummi im Haar. Widerspenstig, ätzend, nicht loszuwerden. Und dieses Gedankenkaugummi muss ich immer wieder durchkauen.
Zwangsgedanken nennt man das.
Es tut ein bisschen gut, das zu wissen. Zu wissen, dass man das nicht tut, um sich oder andere zu nerven, man kann einfach nicht anders.
Oder?
Vor fünf Jahren hätte ich nein gesagt. Das Gedankenkarussell hat sich gedreht und gedreht und mich mitgeschleudert. Und es dreht sich immer noch und ich kann nicht aussteigen.
Aber ich weiß jetzt: Gedanken sind verwandelbar.
Das wusste ich damals nicht, und hätte ich es gewusst, wäre mein Gedankenkarussell vielleicht schon längst eine Attraktion in einem Vergnügungspark.
Denn es ist doch so: Stell dir vor, du sitzt wirklich in einem Karussell. In einem Kettenkarussell mit winzigen Sitzen, du wirst festgehalten von einer Metallstange, die dir den Oberschenkel einquetscht, die Fahrt beginnt und du kannst für drei Minuten nichts anderes tun als die Arme in die Luft zu werfen und zu schreien. Du kannst nicht aussteigen, nicht entkommen. Du bist nicht mehr Herr oder Dame deiner Situation, du bist für drei Minuten in dieser Lage gefangen, du gibst die Kontrolle über so ziemlich alles ab.
Es gibt nur eine einzige Sache, die jetzt, in dieser Situation, immer noch frei ist, die dir keiner wegnehmen kann, die du immer noch kontrollieren kannst.
Und das sind deine Gedanken.
Ich dachte immer, ich hätte keinerlei Kontrolle über meine Gedanken, sie machen, was sie wollen mit mir. Doch es ist genau andersherum.
Deine Gedanken sind das Einzige auf der Welt, das wirklich dir gehört. Man könnte dir alles wegnehmen. Aber nicht deine Gedanken.
Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.
Die Gedanken sind frei.
Aber sie sind nicht unkontrollierbar.
Sie sind verwandelbar.
Von einer einzigen Person.
Mir selbst.