Amalia

Wettbewerbsbeitrag von Luisa Marlene Kochheim, 17 Jahre

Die Sohlen meiner Turnschuhe quietschten auf dem blanken Boden des Klassenzimmers. Ich bewegte mich durch die Tischreihen, fixiert auf den Tisch ganz vorne rechts. Meine zitternden Finger bohrten sich in die kleinen spitzen Dornen am Stängel der Rose, die ich wie einen Schutz vor mir trug. Sie saß auf ihrem Platz, den Blick auf ein Blatt gesenkt, das sie hastig vollschrieb. Ihre Hand krampfte sichtbar, während sie mit ihrem schmierigen Füller geschwungene Buchstaben zauberte. Ihre braunen Haare hingen über ihre Schultern und verdeckten ihr rundes Gesicht, das mein Herz höherschlagen ließ. Ihr dunkler Hoodie versteckte ihre schmale Gestalt und die bleiche Haut. Ich blickte auf die Rose in meiner Hand und biss mir auf die Lippe. Sie hob ihren Kopf, als ich näherkam und drehte sich zu mir um. Ihre blauen Augen trafen meine und ich blieb abrupt stehen. Ihr Blick ließ meinen Körper kurz erstarren und eine Gänsehaut zog sich über meine zitternden Arme. Ich war wie elektrisiert, während ich sie anstarrte.

Im Herbst hatte sie zum ersten Mal die Klasse betreten. Etwas geheimnisvolles war von ihr ausgegangen. Der dunkle Mantel war im Gehen hinter ihr auf dem Boden geschliffen. Ihre raschen Schritte hatten in meinen Ohren gehallt und meine Nackenhaare zu Berge stehen lassen, während sie sich vorne auf den einzigen freien Platz zubewegt hatte. Schnell hatte ich meine Fingernägel betrachtet, nur um nicht zu zeigen, dass ich mich fürchtete. Und ich hatte mich gefürchtet. Sehr lange sogar. Jeden Tag hatte ich versucht, ihr aus dem Weg zu gehen, ebenso wie jeder andere aus der Klasse. Ich hatte mich nicht freiwillig hinter sie in eine Schlange gestellt und stets darauf geachtet, ihr nicht auf dem Schulhof zu begegnen. Manchmal hatte ich im Unterricht vorsichtig zu ihr hinübergeschaut. Sie hatte geschrieben, wann immer ich sie angeblickt hatte. Zu gerne hätte ich einen ihrer Texte gelesen und gewusst, was sie dachte. Irgendwann hatte sie ihren Blick gehoben. Ihr Kopf hatte sich zur Seite gedreht und unsere Augen sich getroffen. Nie zuvor hatte ich einen Blick in das tiefe Blau ihrer Augen bekommen. Das Blau war tief. Es hatte sich angefühlt, als würde sie mir direkt in die Seele blicken. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie meinen Körper zum ersten Mal zum Vibrieren gebracht. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl gehabt, sie sei gar nicht wirklich anwesend. Sie schien irgendwo anders in einer Welt, die nur sie selbst kannte. Eine Welt, in der ihr Auftreten einen Sinn ergab. Und manchmal fragte ich mich, was hinter ihrem tiefen Blick lag. Dann dachte ich an ihre geschwungenen Buchstaben und ich spürte noch stärker den Drang, die geschriebenen Zeilen zu lesen, die sie stets im Unterricht schrieb.

Ob sie auch so tief waren? Ihre Seele war es, die schrieb, das spürte ich.
Es hatte nicht lange gedauert und ein unkontrolliertes Herzklopfen hatte sich zu den Vibrationen gemischt. Ein wilder Strudel, der in Sekundenschnelle durch meinen Körper schoss und mein ganzes Dasein unter Strom setzte. Wie gerne hätte ich etwas zu ihr gesagt. Wie gerne wäre ich ihr nur ein einziges Mal nahegekommen. Stattdessen warf ich ihr weiterhin Blicke zu und begann, mich zu freuen, wann immer sie einen meiner Blicke erwiderte. Ich genoss es, wenn ihr tiefer Blick meine Seele zu berühren schien. Es hatte etwas Verführendes, was in mir drinnen eine unbeschreiblich starke Wärme auslöste.

Ich legte die Rose zitternd vor ihr auf den Tisch. Stunden schienen zu vergehen, während ich dastand und meinen Körper vibrieren spürte. Ihr Blick strahlte Verwunderung aus, die Klasse hinter mir schwieg. Alle Augenpaare hafteten auf mir und schienen zu warten, was als nächstes kommen würde. Die unangenehme Stille legte sich wie ein Fluch über den Raum. Es war mir, als könnte ich mein eigenes Herz schlagen hören. Wie gerne hätte ich jetzt ihr Herzklopfen gehört. Wie gerne hätte ich gewusst, ob ihr Herz ebenfalls ein wenig schneller schlug. So gerne hätte ich irgendetwas von ihr gehört, doch sie schwieg. Lediglich ihre Finger deuteten eine Bewegung an. Sie griffen zu ihrem Stift und schienen nur darauf zu warten, weitere Worte zu schreiben. Ich atmete erneut tief durch und drehte mich um.

Mir wurde heiß und kalt, als ich die vielen Blicke auf mir erstmals bewusst wahrnahm. Dann ließ ich mich auf meinen eigenen Platz fallen. Mein Körper vibrierte noch immer. Mein Herz klopfte stärker als je zuvor. Wirbel an Gefühlen jagten durch meinen Kopf. Ich wandte den Blick in die rechte Ecke ganz vorne. Die Ecke, die ich am besten von allen Ecken kannte. Meine Augen erfassten die dunkelbraunen Haare. Außerdem zwei Hände, die ebenso wie meine eigenen zitterten, während die linke Hand Buchstaben auf das weiße Papier zauberte. Buchstaben, die ausdrückten, was sie niemals aussprach. Ich ließ meine angespannten Schultern fallen und schluckte meine Enttäuschung hinunter.

Eilig lief ich durch die große Halle des Schulgebäudes, geradewegs auf den Ausgang zu. Eine sanfte Brise kühlte meinen Kopf und den noch immer kreisenden Strudel darin. Warmer Sommerregen spülte das dunkle Gefühl in mir fort. Ich schloss für einen Moment die Augen und blieb stehen.
„Amalia?“, ertönte eine zarte Stimme hinter mir und ich öffnete meine Augen wieder. Augenblicklich wurde ich in eine Welle der Vibration eingehüllt. Der Regen prallte an der Welle ab, wie ein wehrloser Flummi. Ich wusste, wer hinter mir stand. Mit jeder Faser meines Körpers fühlte ich ihre Anwesenheit, spürte ihr Dasein. Wie auf Kommando schlug mein Herz schneller, langsam drehte ich mich um. Meine Finger verkrampften sich weit stärker, als ihre Hand es zuvor beim Schreiben getan hatte. Sie stand hinter mir und lächelte, während sie die Rose in die Höhe hielt. Ihre braunen Haare wehten im leichten Wind und ihr Mantel berührte den nassen Asphalt unter uns. Ich strich meine langen blonden Locken hinter die Ohren und erwiderte das Lächeln. „Danke“, sagte sie so leise, dass ich es kaum verstehen konnte. Dabei strahlte ihr rundes Gesicht. Nicht nur ihr Mund, sondern vor allem ihre Augen. „Danke“, sagte sie noch einmal. Dann ging sie an mir vorbei, den Blick gesenkt, die Finger in den langen Ärmeln ihres Mantels versteckt. Ich sah ihr hinterher und zuppelte an meinem Rock. Dabei lächelte ich, genauso, wie ihre Augen es getan hatten. Dieses Mal war ich mir ganz sicher, dass sie zumindest für diesen einen Moment voll und ganz bei mir gewesen war.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.