Lena rennt

Wettbewerbsbeitrag von Ella, 18 Jahre

06.00 Uhr. Der Wecker klingelt. Montag. „Wie kann es sein, dass schon wieder Montag ist? War nicht gerade erst Freitag? Wo ist das Wochenende hin?“. Piep. 06.09 Uhr. Und wieso sind die neun Minuten Snooze eigentlich immer so schnell rum? Genervt schlägt Karo die Bettdecke zurück und schlurft in Richtung Bad. Mit dem Drücken der Türklinke kommt die erste Ernüchterung des Tages, denn statt einer offenen Türe kommt Karo nur ein „besetzt“ entgegen. Na toll. „Dann beeil dich gefälligst“ ruft sie noch, dann schlurft sie wieder zurück in ihr Zimmer und legt sich zurück ins Bett.

06.56 Uhr. Karo wacht auf und schaut auf die Uhr. Schon so spät? „Kann doch gar nicht sein“ denkt sie. 10 Minuten später kommt sie völlig verschwitzt mit dem Bus an der Bushaltestelle an, steigt ein und lässt sich auf einen freien Platz fallen. „Montage sind Scheißtage“, stöhnt sie noch, bevor ihr auffällt, dass sie kein Mittagessen mitgenommen hat.

05.59 Uhr am anderen Ende der Stadt. Lena schlägt die Augen auf. Eine Minute vor dem Wecker. Kann ein Montag besser anfangen? Motiviert steht sie auf und zieht sich um. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Bad macht sie sich auf den Weg in die Küche. Dort mischt sie sich ihren morgendlichen Smoothie. Eine Vitaminbombe zum Frühstück. Großartig.

06.45 Uhr. Lena läuft zum Kühlschrank, in dem sich ihr Proviant für den Tag versteckt. Apfelschnitze für die erste Pause, Gurken- und Karottensticks für die zweite Pause und ihr Mittagessen, bestehend aus einem Nudelsalat und einem Brötchen. Schnell packt sie ihr Essen in ihre Tasche, läuft zur Garderobe und streift sich ihren Mantel über. Einen prüfenden Blick in den Spiegel später verlässt Lena das Haus und macht sich auf den Weg zur Schule.

Am Schultor angekommen wartet Lena auf Karo, denn die beiden sind beste Freundinnen. Und das schon seit dem Kindergarten. Genaugenommen, seit dem Tag, an dem Lena Karo die Hälfte ihres Brotes abgegeben hatte, weil Karo ihres zu Hause liegengelassen hat.
„Ich hab‘ mein Mittagessen vergessen“, grummelt Karo Lena entgegen, als sie am Schultor ankommt. „Dir auch einen guten Morgen“ lacht Lena. „Kannst meinen Salat haben“. „Danke, Montage sind einfach scheiße… wer hat denn das erfunden?“ nuschelt Karo, dann laufen sie los, in Richtung Klassenzimmer

07.40 Uhr. Die erste Stunde beginnt. Geschichte bei Frau Hauser. Um 09.10 Uhr geht Lena in den Konferenzraum der Schule. Eine Besprechung mit der Schulleitung steht an. Das Thema: Verbesserung des schulischen Miteinanders.
Auf die darauffolgende Unterrichtsstunde freut sich Karo ausnahmsweise mehr als Lena, denn jetzt haben sie Kunst. Karo liebt malen, Lena hasst Kunst.
Doch auch die Kunststunde geht irgendwann zu Ende. Mittagspause. Endlich. Und während Karo nach der Mittagschule heimgehen kann, hat Lena noch zwei Stunden Latein.
Zu Hause angekommen staunt Karo nicht schlecht. Der Tag scheint doch noch eine gute Wendung zu nehmen, denn in der Küche steht Lasagne. Raus aus der Küche läuft Karo in ihr Zimmer und ihre Laune bessert sich zunehmend, als ihr auffällt, dass sie ja gar keine Hausaufgaben hat. Großartig. Zeit also für einen Tagebucheintrag.

Liebes Tagebuch,

Es ist Montag. Ich hasse Montage. Noch schlimmer müssen sie nur für Lena sein - aber Lena kann man ja auch mit normalen Menschen nicht vergleichen. Ich weiß gar nicht, wie sie das alles schafft. Zusatzstunden, Schülersprecherin, Stufenbeste. Und das scheint ihr alles total einfach von der Hand zu gehen. Krass.
Deine Karo

Währenddessen schließt Lena erschöpft die Haustüre auf, streift sich den Mantel und die Schuhe ab und läuft nach oben in ihr Zimmer. Sie schließt die Türe hinter sich ab, lässt ihre Tasche neben sich fallen und sinkt mit dem Rücken an der Türe auf den Boden. Dort vergräbt sie ihr Gesicht in ihren Händen und beginnt zu weinen. Wie fast jeden Tag. „Ich kann nicht mehr“ schnieft sie. „Weinend zieht sich Lena den Pullover aus und lange, weiße Verbände kommen zum Vorschein. Niemand weiß, dass Lena sich selbstverletzt, dass sie sich schneidet, um den Druck abzulassen, um noch mehr machen zu können, noch besser zu werden. Denn Lena fühlt sich, als wäre sie nie genug.  Am Abend schreibt sie in ihr Tagebuch:


Liebes Tagebuch,

ich kann nicht mehr. Ich bin so müde. Aber habe ich eine andere Wahl als weiterzumachen? Habe ich eine andere Wahl, als so zu tun, als wäre nichts? Nein, habe ich wohl nicht. Ich muss weitermachen, es geht nicht anders. Ich will ein Abitur von 1,0, schlechtestens 1,2. Sonst ergibt mein Leben eh keinen Sinn mehr.

Mitten in der Nacht wacht Lena auf. Sie bekommt schlecht Luft. „Es ist bestimmt nur eine Allergie“ versucht sie sich zu beruhigen. Doch bei dieser einen, atemlosen Nacht bleibt es nicht. Über die Wochen nehmen die Symptome zu. Nervenschmerzen, Schwächegefühl, ein extrem hoher Puls, zudem eine unerträgliche Müdigkeit, und es wird immer schlimmer.

Eines Morgens wacht Lena auf. Sie steht auf, doch ihre Beine wollen sie kaum tragen. Langsam lässt sie sich auf die Bettkante sacken. Sie fühlt sich schwach. Mühsam richtet sie sich wieder auf und schleppt sich unter erheblichem Kraftaufwand ins Schlafzimmer ihrer Mutter. „Mama“ sagt sie, „wir müssen zum Arzt. Ich glaube, ich bin krank“ sagt sie nur. Es folgt ein Ärztemarathon. Kardiologe, Neurologe, Radiologe, Onkologe, doch niemand findet etwas.

Wochen später ist Lena wieder bei ihrem Hausarzt. Er schickt sie zum Psychiater und siehe da: „Also, für mich ist das sonnenklar, Lena. Du hast einen Burnout.“ Einen was? Damit hat Lena nicht gerechnet. Ihr Psychiater leitet die weiteren Schritte ein. Lena wird in eine Klinik für Burnout-Patienten überwiesen. Gegen ihren Protest, denn Lena möchte in die Schule gehen, doch ihr wird erklärt, dass genau das ein Symptom ihrer Krankheit ist.

In der Klinik schreibt Lena an Karo: „Ich bin am Tiefpunkt meines Lebens. So schlecht ging es mir noch nie.“ Doch langsam scheint sich etwas in ihr zu ändern.

Liebes Tagebuch,

Heute habe ich gelernt, dass Lernen für mich wie eine Droge ist. Tue ich es, fühle ich mich gut. Tue ich es nicht, fühle ich mich schrecklich.

Es war spannend, mich mit den anderen auszutauschen. Ich dachte immer, dass ich die Einzige bin, der es so geht.

Morgen ist mein letzter Tag hier in der Klinik und ich bin so stolz auf mich. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch.


Ein Jahr später.

Es ist die Übergabe der Abi-Zeugnisse und Lena hält ihre letzte Rede als Schülersprecherin.
„Früher dachte ich, wenn mein Abitur schlechter ist als 1,2, dann ist mein Leben vorbei. Heute halte ich mein Abiturzeugnis in der Hand. Mein Schnitt ist 1,5 und ich könnte nicht stolzer sein. Weil ich erkannt habe, dass es viel wichtiger ist glücklich zu sein. Mit dem Leben und mit sich.“

Und so steht Lena auf der Bühne, in einem kurzärmligen Kleid und zeigt sogar ihre Narben, denn sie hat beschlossen, stolz auf sie zu sein. Denn sie zeigen nicht wie schwach sie ist, sondern wie viel sie überlebt hat. Und Karo? Karo sitzt im Publikum und klatscht. Denn sie war noch nie so stolz auf jemanden.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.